Dunkler Zwilling
sie nicht erklären könne. Auch hätte sie manchmal das Gefühl, dass ihre Gliedmaßen ihr nicht mehr gehorchten und unkontrollierte Bewegungen ausführten. Ich sah sie dann eine Weile nicht mehr und begegnete ihr bei einem Turnier auf der Zuschauertribüne. Sie war überglücklich und berichtete mir, dass sie nach zwei Jahren vergeblicher Hoffnung endlich schwanger sei. Ich gratulierte ihr und sah sie wieder einige Monate nicht. Wie gesagt, wir waren nicht wirklich befreundet. Freundschaft, das ging mit ihr irgendwie nicht. Sie war sehr distanziert und verschlossen, ließ andere nicht gerne an sich heran. Eines Tages besuchte ich sie. Der Grund war noch nicht einmal sie, sondern das Pferd. Artos hatte Husten und brauchte ein teures Medikament. Sie machte auf mich einen sehr schlechten Eindruck, war fahrig und nervös, fühlte sich von mir bei der kleinsten Bemerkung sofort angegriffen. Ich beobachtete nun mit eigenen Augen, dass sie in der Tat Probleme hatte, die Bewegungen ihrer Muskeln zu kontrollieren, vor allem im Gesicht. Diese Symptome ließen bei mir einen schlimmen Verdacht aufkommen. Ich riet ihr dringend, einen Gentest machen zu lassen und empfahl ihr mehrere Labors. Einige Wochen später passte sie mich im Reitstall ab. Sie war völlig verzweifelt. Der Gentest hatte eindeutig bestätigt, dass sie Genträgerin der Chorea Huntington war.«
»Korea was?«, fragte Chiara.
»Der deutsche Name dafür ist Veitstanz wegen dieser merkwürdigen Muskelzuckungen. Auf Englisch heißt es Huntington’s disease, abgekürzt HD.«
»HD?«, rief Chiara und einige Gäste wandten sich erstaunt zu ihr um. »Ich dachte, so hieße diese Hüftgelenks-irgendwas?«
»Hüftgelenksdysplasie. Ja, das wird auch mit HD abgekürzt.«
Chiara atmete keuchend und starrte vor sich hin. »Jetzt ist alles klar. Darüber hat Maurice recherchiert. Was ist das für eine Krankheit? Ist die ansteckend?«
Alexandra Meixner schüttelte den Kopf und nahm einen weiteren Schluck Kaffee. »Nein, ich sagte doch, es ist eine Erbkrankheit. Kennst du dich ein bisschen aus mit Genetik?«
Chiara nickte und dachte an die Unterlagen von Maurice. Er hatte nicht heimlich Bio vorausgelernt, sondern sich mit dieser Krankheit beschäftigt. Woher wusste er, dass seine Mutter sie hatte?
»Ich bestelle uns noch eine große Flasche Wasser«, entschied Alexandra Meixner und hob die Hand, dann redete sie weiter: »Wer diese Krankheit von Mutter oder Vater geerbt hat, erkrankt etwa ab der Lebensmitte. Es beginnt meistens mit den Symptomen, die ich dir geschildert habe, die verschlimmern sich zunehmend, bis der Erkrankte seine Bewegungen kaum noch kontrollieren kann, die Muskeln verkrampfen schmerzhaft, im Gesicht entstehen diese Grimassen. Der Tod erfolgt irgendwann durch Atemlähmung etwa zehn bis fünfzehn Jahre nach dem Auftreten der ersten Symptome.«
Chiara war der Schilderung mit Entsetzen gefolgt. »Und da gibt es keine Hilfe?«
»Kaum. Man kann Medikamente gegen die Schmerzen und Krämpfe geben, den Tod ein bisschen erleichtern, mehr nicht. Wer die Krankheit geerbt hat, bekommt sie und stirbt sicher daran. Es ist ein dominanter Erbgang.«
Chiara dachte an rote und weiße Blüten und Kreuzungsgitter, die sie in der Schule gezeichnet hatten. Es war eine Art Knobelspiel gewesen. Plötzlich hatte diese Unterrichtseinheit eine neue Dimension in der Wirklichkeit bekommen. »Wie wahrscheinlich ist es, dass man die Krankheit bekommt, wenn man weiß, dass ein Elternteil sie hat?«
»Der Genfehler sitzt auf einem Partner des Chromosomenpaares Nr. 4, die Wahrscheinlichkeit liegt also bei 50 Prozent, weil bei der Bildung der Keimzellen die Chromosomenpaare getrennt werden.«
Chiara nickte. Meiose. Das hatte sie neulich noch gelernt. Einfach so, wie man den leblosen Schulstoff für den nächsten Test lernt. »Fifty-fifty«, flüsterte sie.
Die Kellnerin hatte das Wasser gebracht und schenkte ein. Chiara trank gierig und Alexandra Meixner beobachtete sie dabei. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Maurice war nicht krank. Als ich Friederike ein paar Wochen nach der Geburt besuchte, sprachen wir darüber. Sie hatte gleich nach der Geburt Genmaterial von ihm an eines der Labore geschickt. Das Ergebnis war eindeutig. Sie hat mir den Laborbericht sogar gezeigt. Wir waren sehr erleichtert.«
»Trotzdem wird erzählt, dass sie sich nicht sehr viel um Maurice gekümmert hat.«
Dr. Meixner nickte. »Sie hatte vermutlich auch aufgrund ihrer Krankheit eine schwere
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