Dunkler Zwilling
nicht gegönnt hatte. Sie wollte wissen, ob noch immer Gefahr für ihn bestand. Sie musste alles herausfinden, um ihn schützen zu können. Es war ihr gleichgültig, in welche Gefahr sie sich selbst dabei begab. Sie packte das Buch an beiden Deckeln und hielt es nach unten. Die Seiten fächerten sich auf. Chiara schüttelte es, und tatsächlich segelte noch ein dünnes Blatt Papier von der Größe einer Postkarte heraus. Mit blauer Tinte waren einige Zeilen notiert.
Liebe Friederike,
anbei ein schönes Foto von Dir und Artos. Nochmals herzlichen Dank für die großzügige Reitbeteiligung. Versprochen! Ich kümmere mich um Dein Hottehü! Artos kommt schon gut zurecht mit mir, auch wenn er noch ein junger und ungestümer Racker ist. Viel Spaß mit der Gesamtausgabe von Wilhelm Busch, alles Gute, vor allem Gesundheit, wünscht
Alexandra Meixner
Chiara legte das Blatt zur Seite und entdeckte auf dem Teppich, dass noch etwas aus dem Buch herausgefallen war. Sie hob es nachdenklich auf und inspizierte es. Plötzlich begann sie zu verstehen. Ihr Herz klopfte heftig. Sie betrachtete noch einmal das Foto der Frau. Sie sah sehr freundlich aus. Ihre Augen strahlten ein warmes, inneres Glück aus. Wie liebevoll sie sich an den Hals des Pferdes lehnte! Artos! Er war jetzt Michelles Pferd.
Chiara versuchte sich zu erinnern. Es war etwa vier Jahre her, dass Gero Michelle zu Weihnachten plötzlich dieses Pferd geschenkt hatte. Er hatte so getan, als hätte er es gerade neu erworben. Dabei hatte es ihm wohl schon seit Jahren gehört. Franca hatte sich damals aufgeregt. Michelle konnte noch gar nicht reiten und dieser große Wallach war viel zu mächtig und gefährlich für sie.
Chiara versteckte die Fotografie in ihrer Schultasche und griff nach ihrem Smartphone. Ein Anruf in der Reitschule genügte und sie erfuhr, dass Artos bis vor vier Jahren von Dr. Alexandra Meixner geritten worden war. Vor vier Jahren war sie als Ärztin nach Afrika gegangen und hatte das Pferd wieder an Gero von Bentheim zurückgegeben. Leichte Enttäuschung machte sich in Chiara breit. Afrika! Zu gerne hätte sie mit dieser Alexandra Meixner einmal gesprochen. »Wissen Sie, wie man sie dort erreichen kann?«, fragte Chiara.
»Dort gar nicht mehr. Sie ist seit ein paar Wochen wieder im Land und reitet jeden Freitag bei uns«, erfuhr Chiara zu ihrer Freude.
Am nächsten Tag brauchte sie eine gute Ausrede, um Max zu erklären, warum sie sich an diesem Wochenende nicht sehen konnten. Sie erfand eine sich ankündigende Magen-Darm-Verstimmung, die bestimmt sehr ansteckend sei und die sie ihm in seiner momentanen Situation nicht zumuten wollte.
Max ließ sich nur ungern von ihr überzeugen, dass es so zu seinem Besten wäre. Ihm stand ein Wochenende mit Krankenhausbesuchen bevor. Gerne hätte er sich durch Kino mit Chiara ein bisschen abgelenkt.
Die groß gewachsene, dunkelhaarige Frau stand trotz der eisigen Kälte in Reithose und geöffneter Jacke draußen auf dem gepflasterten Hof und war damit beschäftigt, die Hufe eines Schimmels auszukratzen. Über dem Rücken des Pferdes war eine dunkelblaue, flauschige Decke ausgebreitet. In eine Ecke war mit Goldbuchstaben das Monogramm A.M. eingestickt. In gebückter Haltung wechselte die Frau hinüber zum nächsten Hinterlauf des Pferdes und umfasste mit sanftem Griff die Fessel. »Na komm, gib Huf!«, sagte sie. Das Tier tänzelte nervös und drängte die Frau zur Seite. Die lehnte sich ohne jede Aufregung gegen das Pferd und drückte es konsequent zurück. Auf das abermals ausgesprochene Kommando hob es schließlich sein Bein an und ließ die Reiterin gewähren.
Chiara entschied, dass sie Alexandra Meixner zweifelsfrei identifiziert hatte und trat heran. »Guten Tag«, sagte sie. »Der Schimmel ist wohl ein bisschen zickig. Soll ich was helfen?«
Alexandra Meixner sah flüchtig auf. »Nein, geht schon. Der ist leider so ein typisches Reitschulpferd. Hart im Maul und wenig sensibel bei den Kommandos. Kann man ja auch verstehen, wir wären auch nicht anders, wenn wir ständig mit kleinen, herrischen Dämchen konfrontiert wären, für die so ein Pferd nur eine andere Form von Barbiepuppe ist.«
Chiara legte die Stirn in Falten und überlegte, wie sie das Gespräch am besten auf den Punkt bringen könnte. Alexandra Meixner richtete sich auf und strich sich mit dem Handrücken eine Strähne aus der Stirn. »Oder habe ich dich jetzt beleidigt, weil du dich angesprochen fühlst?«
Chiara schüttelte den Kopf.
Weitere Kostenlose Bücher