Dunkler Zwilling
»Ich reite gar nicht, sondern nur meine kleine Schwester. Pferde sind mir eine Nummer zu groß. Ich hatte es früher eher mit Meerschweinchen.«
»Die sind in der Tat pflegeleichter«, lächelte die Frau. »Allerdings, wenn man einmal sein Herz an die Pferde gehängt hat, wird man das so leicht nicht mehr los. Ich werde mir bald ein eigenes kaufen.«
»Haben Sie bisher immer nur Schulpferde geritten? Das war bestimmt kein Vergnügen!«
Die Hand von Alexandra Meixner tätschelte den Hals des Schimmels. Dann löste sie den Führstrick vom Geländer und setzte sich in Richtung Stall in Bewegung. Das Tier folgte ihr willig. »Früher hatte ich über Jahre hinweg eine Reitbeteiligung an einem wunderbaren Hannoveraner. Seine Besitzerin wurde sehr krank. Dadurch war er eigentlich mehr mein Pferd als ihres.«
Chiara folgte in Hörweite, aber in sicherem Abstand zu den klappernden Hufen. »Verstehe. Und warum haben Sie den Hannoveraner jetzt nicht mehr?«
Die Frau führte den Schimmel in eine Box, löste den Strick und nahm ihre Decke vom Pferderücken. »Ich bin Ärztin und habe in den letzten Jahren an einer Klinik in Kenia gearbeitet.« Sie schob die Tür zu und vergewisserte sich, dass der Riegel eingerastet war.
Chiara schaute durch das Gitter zu, wie das Pferd sich über seinen Futtertrog hermachte. »Das war bestimmt eine harte Erfahrung für Sie.«
»Teils, teils«, antwortete Dr. Meixner. »Die Problemchen, mit denen hier die Leute ständig zum Arzt rennen, sind dort keine. Dort kommen die Menschen oft erst, wenn sie mit ihren Mitteln nicht mehr weiter wissen, also wenn die Krankheit sich bereits im fortgeschrittenen Stadium befindet. Aids, Malaria, schwere Wundinfektionen.«
Chiara sah nachdenklich auf den bebenden Rücken des Pferdes. »Dann haben Sie bestimmt viele Menschen sterben sehen.«
Dr. Meixner atmete hörbar tief ein. »Ja, das habe ich. Man lernt vor allem eines: Demut. Man lernt, dass wir Menschen trotz größter medizinischer Fortschritte nie alles im Griff haben werden. Diese Hybris unserer modernen Zivilisationsgesellschaft, die ist auf einmal weg. Es gibt Krankheiten, die sind nicht heilbar. Man bekommt einen ganz anderen Blick auf das eigene Leben und lernt viel mehr, den Tag zu nutzen, als in eine ferne Zukunft zu planen. Ein Augenblick voller Menschlichkeit ist wichtiger als ein gut geführtes Aktienpaket.« Alexandra Meixner warf die Pferdedecke über ihre Schulter und musterte Chiara mit einem versonnenen Lächeln. »Tut mir leid. Ich wollte dir keine philosophischen Vorträge halten.«
Chiara nickte. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Ich höre Ihnen gern zu. Seit mein Bruder vor eineinhalb Jahren starb, denke ich oft über solche Themen nach.«
»Oh, das tut mir leid. War es ein Unfall?«
»Wahrscheinlich Suizid.«
»Das ist doppelt schlimm und lässt die Angehörigen sehr verstört zurück. Kennt man denn den Grund?«
»Ich versuche immer noch, das herauszufinden. Vielleicht hat es etwas mit seiner Mutter zu tun. Sie hieß Friederike von Bentheim.«
Alexandra Meixner erstarrte. Einige Augenblicke hatte Chiara das Gefühl, ihre Gesprächspartnerin sei mit den Gedanken weit weg und habe sie völlig vergessen. Dann jedoch kam wieder Bewegung in ihr Gesicht. »Wie hieß er noch? Marc? Marcel?«
»Maurice«, sagte Chiara.
Dr. Meixner nickte. Plötzlich fixierte sie Chiara und sagte mit sichtlicher innerer Bewegung: »Und du? Ich wusste gar nicht, dass sie so kurz nach ihm noch eine Tochter bekommen hat?«
»Ich bin so alt wie er. Meine Mutter ist die zweite Frau von Gero von Bentheim und hat mich mit in die Ehe gebracht.«
»Das ist gut«, hauchte Frau Meixner und Chiara verstand nicht, warum sie plötzlich so erleichtert aussah. Die Ärztin fuhr schnell fort: »Stimmt. Das hatte ich ganz vergessen. Er hat sich ziemlich bald scheiden lassen. Ich glaube, sie wollte das sogar selbst so.«
»Waren Sie sehr gut mit Friederike von Bentheim befreundet?«
»Gut befreundet ist vielleicht zu viel gesagt. Gut bekannt trifft es besser. Ihr Pferd war ihr Ein und Alles und sie wusste es bei mir in guten Händen, wenn sie gesundheitlich nicht in der Lage war, sich darum zu kümmern. Ja, und als Ärztin konnte ich ihr hier und da auch mal einen guten Rat geben.«
»Was war denn das für eine Krankheit, die sie hatte?«
Alexandra Meixners graue Augen fixierten Chiara auf eine Art und Weise, dass man meinen könnte, sie hätte etwas ganz und gar Ungeheuerliches gefragt. »Hat Gero
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