Dunkles Begehren
Doch in
Wirklichkeit warst du verletzt und hattest Angst, dich wieder zu verlieben.«
In der Ferne konnte
Francesca die ersten Grabsteine ausmachen, die wie schweigende Totenwächter
auf dem Friedhof standen. Eigentlich war es ein wunderschöner Ort, uralt und
voller historischer Bedeutung. Einst hatte man hier die Seligen und die
Verdammten streng voneinander getrennt. Eine Seite des Friedhofs war geweiht,
während die andere Seite für diejenigen gedacht gewesen war, die ihr Leben in
Sünde und Ausschweifung verbracht hatten, für Verbrecher und Mörder. Jetzt
wurde der Friedhof dem Erdboden gleichgemacht, und die Verstorbenen wurden zu
einem neuen Friedhof am Stadtrand überführt. Doch die Baumaschinen waren noch
nicht in die Gegend vorgedrungen, in der sie jetzt spazieren gingen. Die
bevorstehende Zerstörung dieses geweihten Ortes erfüllte Francesca mit Trauer.
Viele ihrer Freunde lagen hier begraben.
»Ich habe mich nie
für jemand anderen interessiert, Brice. Immer habe ich deine Gesellschaft
vorgezogen, doch für mich war es eine Freundschaft. Ich liebe dich wie einen
Bruder. Immer wieder habe ich mich bemüht, mehr für dich zu empfinden, und
wünschte mir, dich auf andere Weise zu lieben, besonders wenn ich über die
Zukunft nachdachte. Doch in Wahrheit habe ich nie einen anderen als Gabriel
geliebt. Ich glaubte, er sei vor langer Zeit gestorben, aber ich bin nie über
ihn hinweggekommen.«
»Warum hast du ihn
niemals erwähnt?«, fragte Brice mit einem schmollenden Unterton. »Du hast nicht
einmal seinen Namen ausgesprochen. Wenn wir wirklich so gut miteinander
befreundet waren - warum hast du mir nicht von der schrecklichen Tragödie
erzählt, bei der du glaubtest, deinen Ehemann verloren zu haben?« Ein
abfälliger Klang schlich sich in Brice' Stimme, als er von Gabriel sprach. Er
beschleunigte seine Schritte und stieg über eine niedrige Steinmauer, um dem
wenig benutzten Pfad zu folgen, der zu einem Mausoleum führte.
»Niemand wusste
davon, Brice. Es war zu schmerzlich für mich, darüber zu sprechen.« Das war die
Wahrheit. Nicht einmal ihrer Mutter hatte Francesca von dem Vorfall in dem
kleinen Dorf erzählt. Als ihre Familie in der Zeit der großen Kriege
ausgelöscht worden war, war sie aus den Karpaten geflohen und nach Paris
gekommen. Hier hatte sie gelernt, sich vor ihrem Volk zu verstecken. In ihren
dunklen Augen schimmerten plötzlich Tränen, als sie an diese schwere Zeit
zurückdachte. Hastig blinzelte sie und folgte Brice.
»Aber ich war nicht
irgendjemand, Francesca. Ich war dein bester Freund. Doch du hast immer einen
Teil von dir vor mir verborgen. Wie sehr ich mich auch anstrengte, ich konnte
dir niemals wirklich nahekommen.«
Francesca
verabscheute den jammernden Unterton in seiner Stimme, fühlte sich jedoch
deswegen schuldig. Schließlich hatte Brice allen Grund, die Entwicklung ihrer
Beziehung zu verabscheuen. Sie hatte einmal darüber nachgedacht, ihre letzten
Jahre mit ihm zu verbringen. Francesca senkte den Kopf, sodass ihr langes Haar
ihre Miene vor seinen Blicken verbarg. »Ich wollte dir keine Hoffnungen machen,
Brice. Hoffentlich glaubst du mir das. Ich habe versucht, immer ehrlich zu dir
zu sein, doch es gab Zeiten, in denen ich ernsthaft darüber nachdachte, eine
Beziehung mit dir einzugehen. Deshalb muss ich dir wohl unabsichtlich Zeichen
gegeben haben, dass ich mir ein Zusammenleben mit dir wünsche. Das war falsch
von mir, doch ich habe es nicht mit Absicht getan.«
Brice wandte sich
von ihr ab, und Zorn blitzte in seinen Augen. »Das nimmt mir meine Gefühle
nicht, Francesca, und dir nicht die Schuld.«
Sie seufzte. Brice
schien nicht zu wissen, ob er sie nun anklagen oder ihre Freundschaft retten
sollte. »Vielleicht ist es noch zu früh für diese Unterhaltung. Wir sollten
einige Wochen warten, bis du verstehen kannst, dass wir nicht zueinander
gepasst hätten. Es wäre mir nie möglich gewesen, so für dich zu empfinden, wie
du es dir wünschst.«
»Das werden wir nun
wohl nicht mehr erfahren, nicht wahr?«, erwiderte Brice. Immer schneller
durchquerte er den Friedhof und steuerte auf den ältesten Teil zu, in dem die
Grabsteine so verwittert waren, dass sie allmählich bröckelten.
Francesca
verlangsamte ihre Schritte. »Brice, weißt du eigentlich, wohin du gehst, oder
läufst du nur so schnell, weil du wütend auf mich bist?« Sie hörte das Blut,
das durch seine Adern rauschte, angetrieben von reinem Adrenalin.
Brice griff nach
ihrem Handgelenk und
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