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Dunkles Indien

Dunkles Indien

Titel: Dunkles Indien Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rudygard Kipling
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Gunga Daß, und – ich empfand es wie Dankbarkeit und Befriedigung in mir – ein englisch sprechender Eingeborener, der mir wenigstens klarmachen konnte, wie ich hoffte, wo ich mich eigentlich befand und wie ich mir die Vorgänge des Morgens zu deuten hätte.
    Die Menge trat ein wenig zurück, als ich die jämmerliche Gestalt anredete und aufforderte, mir zu sagen, wie ich denn aus diesem Krater herauskommen könnte. Eine frischgerupfte Krähe in der Hand, kletterte er langsam auf eine Plattform aus Sand, die sich vor den Höhlen hinzog, und fing schweigend an, ein Feuer anzuzünden. Trockene Grashalme, Sandwicke und dürres Treibholz brennen schnell; es war mir in gewissem Sinne ein Trost, als ich sah, daß er sie mit einem gewöhnlichen Streichholz anzündete. Als das Feuer hell brannte und die Krähe davor aufgespießt war, entschloß sich Gunga Daß endlich zu einer Antwort. Ohne irgendwelche Einleitung ging er sofort zum eigentlichen Thema über:
    »Es gibt nur zwei Arten von Menschen, Sar: die lebenden und die toten. Wenn Sie tot sind, Sar, dann sind Sie eben tot, und wenn Sie lebendig sind, nun, dann sind Sie ein Lebendiger.« Hier nahm die Krähe seine Aufmerksamkeit wieder voll in Anspruch, denn sie wirbelte vor dem Feuer herum und konnte jeden Augenblick zu Asche verbrennen. »Wenn Sie zu Hause sterben, aber noch nicht tot sind, und man Sie zum Verbranntwerden zu dem Ghaut trägt, so kommen Sie hierher an diesen Ort.«
    Die Natur dieses stinkenden Dorfes war mir jetzt mit einem Schlage klar. Alles, was ich jemals an Schrecklichem und Groteskem über solche Einrichtungen gelesen oder gehört, verblaßte vor dem, was mir dieser ehemalige Brahmane soeben mit ein paar Worten angedeutet hatte. Als ich vor sechzehn Jahren zum erstenmal nach Bombay kam, erzählte mir ein wandernder Armenier von einem irgendwo in Indien existierenden Ort, an den man Hindus brächte, wenn sie das Unglück gehabt hatten, aus Trance oder Starrsucht wieder zu erwachen. Man hielte sie dort fest, damit sie nicht entkommen könnten. Damals lachte ich über die Geschichte und hielt sie für Reisendengeschwätz.
    Jetzt, wo ich selber in dieser Menschenfalle aus Sand saß, tauchte die Erinnerung an Watsons Hotel mit seinen fächelnden Punkahs, den weißgekleideten Dienern und an das wachsgelbe Gesicht des Armeniers vor mir auf wie eine scharfentwickelte Photographie. Ich brach in ein krampfhaftes Lachen aus: der Kontrast war zu absurd!
    Gunga Daß hatte sich über den unappetitlichen Vogel gebeugt, beobachtete mich jedoch dabei neugierig. Hindus lachen selten; überdies war die Umgebung auch nicht besonders geeignet, zum Lachen zu reizen. Er zog die gebratene Krähe mit feierlicher Miene von dem Holzspieß und verzehrte sie ebenso feierlich. Dann fuhr er in seiner Erklärung fort. Ich gebe sie hier mit seinen eigenen Worten wieder:
    »Bei Choleraepidemien trägt man die Leute zum Scheiterhaufen, auch wenn sie noch nicht ganz tot sind. Werden sie nun ans Flußufer gebracht, so erwachen manche wieder durch die frische Luft. Werden sie nur ein wenig lebendig, so legt man ihnen Lehm auf Nase und Mund. Hilft das nicht, so legt man ihnen noch mehr Lehm auf; sie sterben dann meistens unter Zuckungen. Werden sie aber allzu lebendig, dann läßt man ›Das mit Lehm‹ sein und schleppt sie fort. Ich, zum Beispiel, war allzu lebendig und wehrte mich gegen solch unwürdige Behandlung, denn ich war damals noch ein Brahmane und ein stolzer Mann.
    Jetzt freilich bin ich ein toter Mann und esse« – hier blickte er auf den abgenagten Brustknochen des Vogels mit dem ersten Zeichen innerer Bewegung, seit ich ihn gesehen – »Krähen und anderes Zeugs. Man nahm mich vom Scheiterhaufen herunter, als man sah, daß ich zum Verbrennen noch zu lebendig war, gab mir eine Woche lang Medizinen ein, und ich wurde wieder gesund. Dann schickte man mich per Eisenbahn mit einem Mann zur Aufsicht zu der Station Okara. Dort kamen noch zwei dazu, und wir wurden nachts auf Kamelen hierhergebracht. Dann warf man mich hier herunter in den Krater und die beiden andern hinterdrein. Jetzt bin ich hier seit zweieinhalb Jahren. Ja, ja, einst war ich eine Brahmane und ein stolzer Mann, und jetzt esse ich – Krähen.«
    »Gibt es denn keinen Weg, hier herauszukommen?«
    »Keinen. Als ich herkam, habe ich es oft versucht und die andern auch, aber wir sind jedesmal dem Sand unterlegen, der auf unsere Köpfe herabstürzte.«
    »Aber«, unterbrach ich ihn, »die Flußseite ist doch

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