Dunkles Indien
worden, und Klein-Tobrah war zu jener Zeit das einzige menschliche Geschöpf auf eine halbe Meile im Umkreis gewesen, das als Täter in Betracht kommen konnte, aber immerhin schien es nicht unmöglich, daß das Mädchen durch Zufall verunglückt war. Deshalb wurde Klein-Tobrah freigesprochen, und man sagte ihm, daß er nunmehr gehen könne, wohin er wolle. Das klang sehr großmütig, war es aber nicht, denn wohin hätte Klein-Tobrah gehen sollen? Er hatte nichts zu essen und nichts anzuziehen.
Er trollte sich hinaus auf den umzäunten Hofplatz, setzte sich auf den Brunnenrand und dachte darüber nach, ob ein Sturz in das schwarze Wasser da unten, nebst darauffolgendem unfreiwilligem Tauchen, eine gewaltsame Reise über ein anderes, noch schwärzeres und wesentlich größeres Gewässer nach sich ziehen würde, da kam ein Stallknecht des Weges und legte einen leeren Futterbeutel auf die Steine. Klein-Tobrah war sehr hungrig und klaubte daher die wenigen feuchten Körner heraus, die das Pferd übriggelassen hatte.
»Oh, du Dieb du! Und eben erst den Schrecken des Gerichtes entronnen!« sagte der Stallknecht. »Komm her, Bursche!« Er nahm Klein-Tobrah am Ohr und führte ihn zu einem dicken, großen Engländer, der sich sogleich die Geschichte des Diebstahls ausführlich erzählen ließ.
»Hah!« rief der Engländer sodann dreimal hintereinander. Möglich auch, daß er einen stärkeren Ausdruck gebrauchte, »Steck ihn ins Netz und nimm ihn mit nach Hause.« So wurde denn Klein-Tobrah in einem Netz in einen Karren geworfen und in das Haus des Engländers gefahren; er zweifelte keinen Augenblick, daß er dort wie ein Schwein abgestochen werden sollte. Aber der Engländer sagte nur wie vorhin dreimal »Hah!« und fügte gleich darauf hinzu: »Nasses Getreide! Pfui Teufel. Man füttere den kleinen Bettler! Wir wollen einen Reitburschen aus ihm machen. Nasses Getreide! Sowas! Es schreit zum Himmel.«
»Erstatte Bericht über dich!« befahl der Oberstallknecht würdevoll, nachdem Klein-Tobrah die ihm vorgesetzte Mahlzeit verschlungen hatte und während die Dienerschaft in ihrem Quartier hinter dem Hause der Ruhe pflegte. »Du scheinst nicht der Zunft der Bereiter und Pferdepfleger anzugehören, trotzdem dein Appetit dafür spricht. Was hast du mit dem Gericht zu tun gehabt und warum? Heraus mit der Sprache, kleiner Teufelssprößling!«
»Ich hab nicht genug zu essen gehabt«, sagte Klein-Tobrah ruhig. »Hier aber ist es prachtvoll.«
»Mach keine Umschweife!« mahnte der Oberstallknecht, »sonst mußt du den Stall des großen Fuchshengstes ausputzen, und das Luder beißt wie ein Kamel.«
»Wir sind Telis«, [Ölpresser] berichtete Klein-Tobrah und scharrte dabei mit den Zehen im Sand. »Wir waren alle Telis, mein Vater, meine Mutter, mein vier Jahre älterer Bruder und die Schwester.«
»Dieselbe, die man tot im Brunnen gefunden hat?« fragte einer der Leute, der von der Verhandlung gehört hatte.
»Dieselbe, ja!« bestätigte Kleän-Tobrah ernst. »Dieselbe, die tot im Brunnen gefunden wurde. Einmal - ich weiß nicht mehr, wann - ist eine Krankheit in unser Dorf gekommen, wo die Ölpresse gestanden hat. Die Schwester hat es zuerst befallen, und als sie aufstand, hatte sie das Augenlicht verloren. Denn es war mata - die Blatternkrankheit - gewesen. Dann sind mein Vater und die Mutter dran gestorben. Nur wir sind übriggeblieben: mein Bruder, der damals zwölf Jahre alt war -, ich - acht Jahre - und meine Schwester, die nicht mehr hat sehen können, und der Ochse und die Ölpresse. Nach und nach haben wir es fertiggebracht, wieder Öl zu pressen wie früher. Aber Surjun Daß, der Kornhändler, hat uns beim Geschäft betrogen und dann war der Ochs immer so widerspenstig. Wir haben ihm Ringelblumen für die Götter auf den Nacken gelegt und auch auf den großen Mahlbalken unterm Dach, aber wir haben trotzdem nichts verdient. Surjun Daß war ein harter Mann.«
»Bapri-bap!« murrten die Frauen der Pferdeknechte, »ein Kind so zu betrügen! Aber wir kennen sie ja, diese Bunnialeute!«
»Die Presse war schon alt«, fuhr der Kleine fort, »und wir hatten nicht viel Kraft, mein Bruder und ich. Und wir konnten auch nie den Balken richtig im Bügel festmachen.«
»Das glaub ich gern«, fiel die aufgedonnerte Gattin des Oberstallknechts redselig ein und trat in den Kreis. »Das ist eine Arbeit für kräftige Männer. Als ich noch nicht verheiratet war und im Haus meines Vaters –«
»Still, Weib!« befahl der
Weitere Kostenlose Bücher