Dunkles Verhaengnis
Für einen Stadtjungen hatte er einen weiten Weg zurückgelegt.
»Es ist das Tagebuch seines Bruders, aus den letzten Tagen«, sagte Isaiah über das Päckchen, das ich ihm mitgebracht hatte. »Der einzige Mensch außer mir, dem Merle jemals nahegestanden hatte. Thomas starb an Krebs, an dieser unheimlichen Abart, die nicht metastasiert, aber immer wiederkommt. Beim ersten Mal holten sie einen zehn Pfund schweren Tumor aus dem Bauch. Er nannte ihn Gertrude – und Merle schickte eine Geburtsanzeige statt einer Karte mit Genesungswünschen. Alles bestens, aber etwas mehr als ein Jahr später war er wieder da, größer diesmal, und auch Organe waren betroffen. Beim vierten Mal lehnte Thomas weitere Operationen ab.«
Isaiah lehnte sich gegen den Baum.
»Erinnern Sie sich noch, als ich Ihnen von meiner Großmutter erzählt habe, dass sie eigentlich für das alles hier verantwortlich ist? Wie ich am Ende bei ihr war? Tja, bei Thomas und Merle war es nicht so. Merle war nicht bei ihm, er war drei Staaten weit entfernt und damit beschäftigt, eine Ehe zu retten,
die schon viel zu lange viel zu zerrüttet war. Er war auf der Arbeit, als der Anruf kam. Einem Patienten ging es nicht gut, ein Transplantat, das ungefähr eine Stunde zuvor reingekommen war. Man bestand darauf, dass der Anruf dringend sei, also ging Merle ans Telefon. Es war das Hospiz mit der Nachricht, dass Thomas an diesem Morgen gestorben war. Merle bedankte sich für den Anruf und kehrte genau in dem Moment zur Arbeit zurück, als der Transplantationspatient aufgerufen wurde. Er hatte an diesem Tag Schicht und absolvierte seinen Dienst, wie gehabt.«
Man hört einfach nur zu.
»Merle konnte noch nie gut seine Gefühle zeigen. Zum Teil lag’s an dem, was er machte, zum Teil war er einfach so. Aber Thomas’ Tod traf ihn schwer. Manchmal rief er abends an. Wir wechselten dann bestenfalls drei oder vier Sätze, er war einfach nur da, am Telefon, sieben-, achthundert Meilen entfernt.«
Ich musste fragen; der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier. »Wann war das?«
»Vor etwas mehr als einem Jahr.«
»Diese Depression hat also immer noch angehalten?«
»Warum fragen Sie?«
Ich zögerte. »Allem Anschein nach war er auf dem Weg hierher, um Ihnen das Tagebuch zu geben.«
»Glauben Sie, er war suizidgefährdet?«
»Warum sollte er wollen, dass Sie es jetzt bekommen? Etwas, das so wichtig für ihn war. So etwas machen Leute oft, wenn sie …«
»Ja. Stimmt.« Isaiah stieß sich vom Baum ab, saß wieder gerade da und legte seine Hand flach auf das Tagebuch. »Nun, ich weiß nicht. Wir werden es wohl nie erfahren.«
»Könnte er krank gewesen sein, wie sein Bruder? Irgendeine Art von Vorahnung?«
Isaiah schwieg. Er nahm das Tagebuch und stand auf.
»Spielt es eine Rolle?«, sagte er dann.
Kapitel Zehn
Ich hatte es wieder einmal nicht geschafft zuzuhören.
Eldon wollte noch einmal darüber nachdenken, darüber, sich freiwillig zu stellen.
Jed Baxter war wieder in dem ungekennzeichneten Zimmer 8 des Inn-a-While.
Und der Hund, über den Red Wilson sich beschwert hatte, hatte, wie sich herausstellte, einen guten Grund zu bellen.
Am Spätnachmittag fuhr ich hin. Als ich in seine Straße einbog, stand Red am Briefkasten und wartete bereits auf mich. Jerry Langston, der die Post auf dem Land austrägt, erzählte mir, dass Red jeden Tag dort wartete, um seine Post persönlich entgegenzunehmen, und fügte hinzu, das Einzige, was er je gesagt habe, sei: »Hab Sie kommen gehört.«
Mit meinen Fragen bezüglich des Hundes schnitt ich nicht viel besser ab. Hätte ich Silben gesammelt, hätte ich mein Soll wahrscheinlich nie erfüllt. Das Gebell ging nun bereits seit drei oder vier Tagen, wie mir zu ermitteln gelang, aber seit gestern war es schlimmer geworden. Der Alte von gegenüber hatte
offenbar angefangen, den Hund zu schlagen wegen der Bellerei, da war Red sich sicher.
Der Alte . Wilson war selbst schon deutlich in den Siebzigern, aber durchtrainiert und drahtig. Er zeigte über den Feldweg zu einem Haus, das den Eindruck vermittelte, als habe es als Veranda angefangen, habe auch einen leidlichen Ehrgeiz entwickelt und dann eine Form von Zellteilung durchgemacht.
Ich fuhr hinüber. Es traf mich in der Minute, als ich aus dem Jeep stieg, aber der Geruch ist auf dem Land so alltäglich, dass ich nicht übermäßig darauf achtete. Der Eigentümer des Anwesens, Bob Vander, stand unmittelbar hinter der Fliegentür und schaute heraus. Wahrscheinlich hatte
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