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Dunkles Verhaengnis

Dunkles Verhaengnis

Titel: Dunkles Verhaengnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Sallis
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versuchen können. Was sagen Sie zu ihm?«
    »Bin ich anwesend?«
    »Im Interesse der Übung, ja.«
    »Ich bin nicht mehr Ihr Schüler, Cy.«
    »Gewohnheit. Also: Was sagen Sie zu ihm, als erfahrener Profi?«
    »Ich sage …«, begann ich und strauchelte.
    »Genau. Sie sagen gar nichts. Sie hören zu.« Cy stand auf, um zu gehen. »Und das ist mit Abstand das Wichtigste, was ich Ihnen überhaupt sagen kann. Eine kleine, einfache Sache – wie die meisten großen Geheimnisse. Sie hören einfach nur zu.«
    Schon merkwürdig, wie sich unser Leben mit zunehmendem
Alter in eine Metapher verwandelt. Immer häufiger und ohne besonderen Anlass steigen Erinnerungen in uns auf, und es kommt so weit, dass alles uns an irgendetwas zu erinnern beginnt. Wir, unsere Handlungen, unser Leben, werden symbolisch. Wir stellen uns vor, die Welt würde dadurch tiefer, reicher; tatsächlich wird sie nur abstrakter. Wir reden uns ein, wir wüssten jetzt, auf was es wirklich ankommt im Leben, tatsächlich geht es nach wie vor nur darum, die tägliche Routine am Laufen zu halten.
    Etwas Ähnliches lehrte uns auch die Stadt, die hinter uns lag.
    Billy, so stellte sich heraus, würde gesund werden. Er hatte ein großes Blutgerinnsel entwickelt, aber es blieb in einer Beinvene stecken, was sie chirurgisch entfernen konnten, bevor es die Lunge oder das Herz erreichte. Lonnie, mit dem ich telefonierte, kurz bevor wir aufbrachen, erklärte, die Operation müsse man sich vorstellen, als würde man jemandem einen Wurm aus der Haut ziehen. Plus die ganzen raffinierten Instrumente, Geräte und akademischen Titel natürlich.
    Und jetzt wanderten Jed Baxter und ich im Hinterland durch dichtestes Gestrüpp, vier oder fünf Senken und ein oder zwei lange Aufstiege entfernt von
Isaiahs Kolonie. Die Morgensonne fiel schräg durch die Bäume, traf auf den Boden und verschwand ohne viel Umstände im Unterholz. Überall riefen Vögel, verstummten, wenn wir näher kamen und fingen hinter uns wieder an. Das heiser flüsternde Geplapper der Eichhörnchen.
    Die Kolonie sah gut aus. Die Leute aus der Stadt hatten beim Wiederaufbau ganze Arbeit geleistet, und die Kids hatten die Hilfestellung offensichtlich zu würdigen gewusst. Kids – ich benutzte immer noch dieses Wort für sie, obwohl sie durchaus keine Kinder waren, und die meisten von ihnen schon eine ganze Weile nicht mehr. Das alte Schild – ALL DIE WARUMS SIND HIER – war wieder errichtet worden, diesmal über dem Gemeinschaftssaal. Sie hatten die versengten Ränder belassen und den Riss geleimt, der sich über die komplette Länge des Brettes zog. Am hinteren Ende des Geländes hatten sie einen Spielplatz angelegt, der noch in den schicksten innerstädtischen Park gepasst hätte: tierförmige Schaukeln, ein Baumhaus, ein hölzernes Klettergerüst, aus Kisten gebaute Tunnel, eine winzige Scheune samt Gehege. Eines der neueren Mitglieder der Kolonie war Tischler und hatte für einen Bauunternehmer in San Francisco nach Maß gefertigte Treppen, Türzargen und Ähnliches gebaut. Die Schaukel
in Gestalt eines Pferdes besaß eine kunstvoll gewellte, handgeschnitzte Mähne; feine Locken schlängelten sich in seine Ohren.
    Die Gruppe frühstückte gerade draußen an einem der Tische. Moira entdeckte uns zuerst und hob eine Hand hoch in einer Geste, die sowohl Alarmsignal als auch Begrüßung war. Die anderen drehten sich um, Isaiah kam uns auf der Lichtung entgegen, und natürlich mussten wir mit ihnen essen. Frisch gebackenes Brot, Holunderkonfitüre, eine Art Hüttenkäse, der (wie Moira in Gebärdensprache erklärte, die eines der Kinder übersetzte) gemacht wurde, indem man Milch mit Zitronensaft gerinnen ließ.
    Ich hatte Baxter erklärt, was ihn erwarten würde, aber man merkte, dass es für ihn ein ziemlicher Brocken war, das alles hier aufzunehmen und als das zu akzeptieren, was es war. Nachdem wir gegessen hatten, spielten er und Eldon in der Nähe Hufeisenwerfen (Hufeisen! Wann hatte ich zum letzten Mal Hufeisen gesehen?) und redeten. Wir hatten geholfen, den Tisch abzuräumen, und versucht, noch mehr zu helfen, aber Moira und die anderen hoben abwehrend die Hand und schoben uns pantomimisch beiseite, zogen Grimassen in gespieltem Entsetzen, als wären wir eine Invasionsarmee.
    Isaiah und ich saßen unter einem Pekannussbaum
an einem Tisch, der mit getrockneter Vogelscheiße überzogen war. Isaiah wischte so viel er konnte mit der Hand fort und beugte sich dann vor, um seine Hand am Gras abzuwischen.

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