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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Magnet. Das ist anders im Krieg und anders im Lager — das Alltägliche der Tode, die Abgestumpftheit der Gefühle nimmt das Interesse am toten Körper. Doch bei Saweljew hatte Iwan Iwanowitschs Tod irgendwelche dunklen Seelenwinkel berührt, ausgeleuchtet, in Unruhe versetzt, ihn zu irgendwelchen Entscheidungen gedrängt.
    Er kam in die Hütte, nahm eine Axt aus der Ecke und trat über die Schwelle. Der Vorarbeiter, der auf der Erdbank saß, sprang auf und schrie etwas Unverständliches. Fedja und ich rannten auf den Hof.
    Saweljew lief bis zu dem dicken kurzen Lärchenklotz, auf dem wir immer Holz gesägt hatten — der Klotz war voller Schnittspuren, die Rinde abgehauen. Er legte die linke Hand auf den Klotz, spreizte die Finger und holte mit der Axt aus.
    Der Vorarbeiter schrie gellend und durchdringend. Fedja stürzte zu Saweljew — vier Finger flogen ins Sägemehl, man sah sie zuerst gar nicht unter den Zweigen und feinen Spänen. Rotes Blut schlug aus den Fingern. Fedja und ich zerrissen Iwan Iwanowitschs Hemd, schnürten Salweljews Arm ab und verbanden die Wunde.
    Der Vorarbeiter führte uns alle ins Lager. Saweljew ins Ambulatorium, zum Verbandswechsel, und in die Ermittlungsabteilung, zwecks Einleitung eines Verfahrens wegen Selbstverstümmelung, Fedja und ich kehrten in dasselbe Zelt zurück, das wir vor zwei Wochen mit solchen Hoffnungen und Glückserwartungen verlassen hatten.
    Unsere Plätze auf den oberen Pritschen waren schon von anderen besetzt, aber wir kümmerten uns nicht darum — jetzt war Sommer, auf den unteren Pritschen war es wahrscheinlich sogar besser als oben, und bis der Winter kommt, wird sich noch vieles, vieles verändern.
    Ich schlief schnell ein, aber in der Nacht wachte ich auf und ging zum Tisch des Barackendienstes. Dort hockte Fedja mit einem Blatt Papier in der Hand. Über seine Schulter las ich das Geschriebene.
    »Mama«, schrieb Fedja, »Mama, mir geht es gut. Mama, ich bin nach der Saison gekleidet...«
    1959

Der Injektor
    An den Bergwerkschef Genossen A. S. Koroljow
    vom Chef des Abschnitts »Goldquell«
Kudinow L. W
.
R APPORT
    Entsprechend Ihrer Anordnung hinsichtlich der Abgabe von Erklärungen zum sechsstündigen Arbeitsausfall bei der 4. Hflt.Hftl.brigade , vorgefallen am 12. November d. J. im Abschnitt »Goldquell« des Ihnen unterstellten Bergwerks, melde ich wie folgt:
    Die Lufttemperatur lag am Morgen unter minus fünfzig Grad. Unser Thermometer wurde vom diensthabenden Aufseher zerschlagen, wovon ich Ihnen Meldung erstattet habe. Jedoch ließ sich die Temperatur feststellen, da die Spucke in der Luft gefror.
    Die Brigade wurde fristgerecht hinausgeführt, konnte die Arbeit jedoch nicht antreten, da am Boiler, der unseren Abschnitt versorgt und den Frostboden erwärmt, der Injektor den Dienst vollkommen verweigerte. Von der schlechten Arbeit des Injektors habe ich den Chefingenieur mehrfach in Kenntnis gesetzt, doch es wurden keine Maßnahmen ergriffen, und der Injektor ist vollkommen außer Kontrolle geraten. Derzeit will ihn der Chefingenieur nicht austauschen.
    Die schlechte Arbeit des Injektors hatte die mangelnde Vorbereitung des Bodens zur Folge, und die Brigade war einige Stunden ohne Arbeit. Wärmen kann man sich bei uns nirgends, und Feuer zu machen ist nicht gestattet. Die Brigade jedoch in die Baracke zurückzuschicken gestattet der Begleitposten nicht.
    Ich habe bereits an alle nur möglichen Stellen geschrieben, daß ich mit einem solchen Injektor nicht länger arbeiten kann. Er hat schon fünf Tage miserabel gearbeitet, und dabei hängt die Planerfüllung des gesamten Abschnitts von ihm ab. Wir kommen mit ihm nicht zurecht, und der Chefingenieur schenkt der Angelegenheit keine Beachtung, sondern verlangt nur Kubikmeter.
    Der Leiter des Abschnitts »Goldquell«,
    Bergbauingenieur
L. Kudinow
.
    Schräg über den Rapport ist in deutlicher Handschrift geschrieben:
    1) Wegen Arbeitsverweigerung an fünf Tagen, die eine Desorganisierung der Produktion und Arbeitsausfälle am Abschnitt nach sich zog, ist Hftl. Injektor für drei Tage ohne Arbeitsaufnahme in einer Kompanie mit verschärftem Regime zu arretieren. Die Sache ist an die Ermittlungsorgane zu übergeben, um Hftl. Injektor zur gesetzlichen Verantwortung zu ziehen.
    2) Chefingenieur Gorjew erteile ich einen Verweis wegen mangelnder Disziplin in der Produktion. Ich fordere die Ersetzung von Hftl. Injektor durch einen Freiwilligen.
    Der Chef des Bergwerks
    Aleksandr Koroljow
    ‹1956›

Apostel

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