Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)
war Frisorgers Verdienst, denn es gab keinen friedlicheren Menschen als ihn. Er kränkte niemanden und sprach wenig. Seine Stimme war greisenhaft, brüchig, doch auf irgendwie künstliche, betonte Weise brüchig. Mit einer solchen Stimme sprechen im Theater junge Schauspieler, wenn sie Greise spielen. Im Lager versuchen viele (und nicht ohne Erfolg), älter und physisch schwächer zu erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind. All das geschieht nicht immer aus bewußter Berechnung, sondern irgendwie instinktiv. Die Ironie des Lebens besteht dabei darin, daß die Mehrzahl der Leute, die ihr Alter nach oben und ihre Kräfte nach unten korrigierten, in einem noch schlimmeren Zustand waren, als sie zeigen wollten.
Doch Frisorgers Stimme hatte nichts von Verstellung.
Jeden Morgen und Abend betete er stumm, von allen abgewandt und den Blick auf den Boden gerichtet, und wenn er sich überhaupt an allgemeinen Gesprächen beteiligte, dann nur bei religiösen Themen, das heißt sehr selten, denn die Häftlinge mögen religiöse Themen nicht. Der alte Zotenreißer, der gutmütige Isgibin, hat einmal versucht, sich über Frisorger lustig zu machen, doch seine Spitzen wurden mit einem so friedlichen Lächeln aufgenommen, daß Isgibins Schuß ins Leere ging. Frisorger wurde von der ganzen Schürfe gemocht und sogar von Paramonow selbst, dem Frisorger einen wunderbaren Schreibtisch baute, an dem er wohl ein halbes Jahr gearbeitet hat.
Unsere Pritschen standen nebeneinander, wir unterhielten uns oft, und Frisorger wunderte sich manchmal, kindlich mit den kleinen Händen fuchtelnd, wenn er bei mir die Kenntnis irgendeiner populären Geschichte aus dem Evangelium feststellte — ein Stoff, den er in seiner schlichten Seele für den Besitz nur des engen Kreises der Religiösen hielt. Er kicherte und war sehr zufrieden, wenn er derartige Kenntnisse entdeckte. Und begeistert machte er sich daran, mir Dinge aus dem Evangelium zu erzählen, an die ich mich schlecht erinnerte oder die ich gar nicht wußte. Ihm gefielen diese Gespräche sehr.
Einmal jedoch, als er die Namen der zwölf Apostel aufzählte, irrte sich Frisorger. Er nannte den Namen des Apostels Paulus. Ich, der ich mit aller Anmaßung des Ignoranten stets den Apostel Paulus für den wahren Begründer der christlichen Religion gehalten hatte, ihren wichtigsten theoretischen Führer, kannte die Biographie dieses Apostels ein wenig und versäumte es nicht, Frisorger zu verbessern.
»Nein, nein«, sagte Frisorger lachend, »Sie wissen das nicht, sehen Sie«, und er zählte an den Fingern ab. »Petrus, Paulus, Markus...«
Ich erzählte ihm alles, was ich über den Apostel Paulus wußte. Er hörte mir aufmerksam zu und schwieg. Es war schon spät, Schlafenszeit. In der Nacht wachte ich auf, und im flimmernden, dunstigen Licht der Petroleumfunzel sah ich, daß Frisorgers Augen offen waren, und hörte Geflüster: »Mein Gott, hilf mir! Petrus, Paulus, Markus...« Er tat die ganze Nacht kein Auge zu. Morgens ging er früh zur Arbeit, am Abend kam er spät, als ich schon eingeschlafen war. Ich wurde geweckt von leisem Greisenweinen. Frisorger kniete und betete.
»Was ist mit Ihnen?«, fragte ich, als das Gebet zu Ende war.
Frisorger nahm meine Hand und drückte sie.
»Sie haben recht«, sagte er. »Paulus war keiner der zwölf Apostel. Ich habe Bartholomäus vergessen.«
Ich schwieg.
»Sie wundern sich über meine Tränen?« sagte er. »Das sind Tränen der Scham. Solche Dinge sollte, dürfte ich nicht vergessen. Das ist eine Sünde, eine große Sünde. Ich, Adam Frisorger, werde auf meinen unverzeihlichen Fehler von einem Fremden hingewiesen. Nein, nein, Sie trifft keine Schuld, das bin ich selbst, das ist meine Sünde. Aber es ist gut, daß Sie mich verbessert haben. Alles wird gut.«
Ich konnte ihn kaum beruhigen, und von da an (das war kurz vor dem Verrenken des Fußes) waren wir noch bessere Freunde.
Einmal, als niemand in der Tischlerei war, zog Frisorger eine speckige Stoffbrieftasche hervor und winkte mich ans Fenster.
»Hier«, sagte er und streckte mir eine winzige geknickte Photographie entgegen, eine »Momentaufnahme«. Es war die Photographie einer jungen Frau mit einem, wie auf allen »Momentaufnahmen«, zufälligen Gesichtsausdruck. Die angegilbte, rissige Photographie war sorgfältig mit einem bunten Papierchen umklebt.
»Das ist meine Tochter«, sagte Frisorger feierlich. »Meine einzige Tochter. Meine Frau ist schon lange tot. Meine Tochter schreibt mir
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