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Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition)

Titel: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Warlam Schalamow
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Paulus
    Als ich im Schürfgraben von der glitschigen Stockleiter abrutschte und mir den Fuß verrenkte, war der Leitung klar, daß ich lange hinken würde, und weil ich nicht unbeschäftigt herumsitzen durfte, wurde ich als Helfer zu unserem Tischler Adam Frisorger versetzt, worüber wir beide, Frisorger und ich, sehr froh waren.
    In seinem ersten Leben war Frisorger Pastor in irgendeinem deutschen Dorf bei Marxstadt an der Wolga gewesen. Wir hatten uns auf einem der großen Transporte während der Typhusquarantäne getroffen und waren zusammen hierhergefahren, in die Kohleschürfung. Frisorger war, wie ich, schon in der Tajga gewesen, war auch schon auf Grund gelaufen und kam als Halbverrückter vom Bergwerk ins Durchgangslager. In die Kohleschürfung schickte man uns als Invaliden, zur Versorgung, den Arbeiterkadern der Schürfung wurden nur Freie zugeführt. Allerdings waren das ehemalige Häftlinge, die ihre »Frist« oder Haftdauer gerade abgesessen hatten und im Lager mit dem halb verächtlichen Wort »Freiarbeiter« bezeichnet wurden. Bei unserer Versetzung hatten die vierzig Mann dieser Freien kaum die zwei Rubel, um Machorka zu kaufen, doch trotzdem waren sie schon nicht mehr unseresgleichen. Allen war klar, es werden zwei, drei Monate vergehen, und sie kleiden sich gut, können etwas trinken, bekommen einen Paß, vielleicht fahren sie ein Jahr später sogar nach Hause. Diese Hoffnungen waren um so lebhafter, als Paramonow, der Chef der Schürfung, ihnen einen hohen Verdienst und Polarrationen versprach. »Ihr fahrt im Zylinder nach Hause«, sagte der Chef ihnen ständig. Mit uns aber, den Häftlingen, war von Zylindern und Polarrationen gar nicht die Rede.
    Übrigens war er zu uns auch nicht grob. Für die Prospektierung bekam er keine Häftlinge, und fünf Personen für die Versorgung war alles, was Paramonow der Leitung hatte abringen können.
    Als man uns, die wir einander noch nicht kannten, nach der Liste aus den Baracken rief und ihm unter die hellen und durchdringenden Augen führte, war er mit unserer Befragung überaus zufrieden. Einer von uns war Ofensetzer, der grauschnurrbärtige Spaßvogel Isgibin aus Jaroslawl, der seine natürliche Munterkeit auch im Lager nicht verloren hatte. Sein Handwerk kam ihm in gewisser Weise zu Hilfe, und er war nicht so ausgezehrt wie die übrigen. Der zweite war ein einäugiger Gigant aus Kamenez-Podolsk, »Heizer auf der Lok«, wie er sich Paramonow empfahl.
    »Dann kannst du ein bißchen schlossern«, sagte Paramonow.
    »Kann ich, kann ich«, bestätigte der Heizer mit Vergnügen. Er hatte die ganze Einträglichkeit der Arbeit in der Freien Schürfe längst begriffen.
    Der dritte war der Agronom Rjasanow. Dieser Beruf begeisterte Paramonow. Den zerfetzten Lumpen, in die Rjasanow gekleidet war, wurde natürlich keinerlei Beachtung geschenkt. Im Lager beurteilt man die Menschen nicht nach ihrer Kleidung, und Paramonow kannte das Lager ziemlich gut.
    Der vierte war ich. Ich war weder Ofensetzer noch Schlosser, noch Agronom. Doch mein hoher Wuchs schien Paramonow zu beruhigen, und es lohnte auch nicht, wegen einem Mann die Liste zu korrigieren. Er nickte.
    Unser fünfter jedoch benahm sich sehr sonderbar. Er murmelte Gebetsworte und bedeckte das Gesicht mit den Händen, ohne Paramonows Stimme zu hören. Aber auch das war dem Chef nichts Neues. Paramonow wandte sich dem Arbeitsanweiser zu, der neben ihm stand und einen gelben Stapel Schnellhefter in den Händen hielt — die sogenannten »Lagerakten«.
    »Er ist Tischler«, sagte der Anweiser, der Paramonows Frage erriet. Die Einstellung war beendet, und man brachte uns in die Schürfe.
    Frisorger erzählte mir später, er habe, als man ihn rief, gedacht, er werde zur Erschießung gerufen, damit hatte ihm der Ermittler schon im Bergwerk Angst gemacht. Er und ich lebten ein ganzes Jahr lang zusammen in einer Baracke, und wir haben uns nicht ein einziges Mal gezankt. Das ist eine Seltenheit unter Häftlingen sowohl im Lager als auch im Gefängnis. Der Streit entsteht aus Kleinigkeiten, und rasch kocht das Gefluche so hoch, daß man glaubt, die nächste Stufe kann nur das Messer sein oder bestenfalls der Feuerhaken. Doch ich lernte bald, diesem aufgeblasenen Gefluche keine große Bedeutung beizumessen. Die Heftigkeit nahm schnell ab, und wenn beide noch lange matt vor sich hinfluchten, geschah das mehr der Ordnung halber, zur Wahrung des »Gesichts«.
    Doch mit Frisorger habe ich mich niemals gestritten. Ich denke, das

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