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Durch den Sommerregen

Durch den Sommerregen

Titel: Durch den Sommerregen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Hinz
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ihm Zeit zu verbringen, doch der Gedanke alleine löst schon Panik in mir aus.
    „Ich bin ziemlich hysterisch geworden, weil ich nicht verstanden habe, was passiert. Natürlich war ich aufgeklärt, aber in dem Moment konnte ich diese Infos nicht mit dem verbinden, was mit mir geschieht. Ich habe ehrlich gedacht, ich wäre verletzt. Meine Mutter war nicht erreichbar und mein Vater hat sich schnell von meiner Panik anstecken lassen. Schließlich hat er mich gepackt und in die Notaufnahme gebracht. Dort hat er alles ohne Scham mit den Ärzten und Schwestern geklärt, aber wir haben anschließend nie wieder darüber gesprochen. Meine Mutter hat erst Jahre später davon erfahren.“
    „Klingt, als hättest du einen tollen Papa.“
    Gabriel spricht über seinen eigenen Vater überhaupt nicht. Er umgeht das Thema jedes Mal so geschickt, als hätte diese Person nie existiert.
    „Das ist er.“ Auch wenn wir uns sehr distanziert haben.
    Trotz der Themen, die wir beide umschiffen, sprechen wir eigentlich viel über unsere Familien.
    „Jetzt bist du wieder dran. Wobei die Pornogeschichte ja schon fast doppelt zählt.“
    „Ich möchte nur noch mal betonen, dass du gewarnt warst, liebe Helena.“
    Er kann mir nichts erzählen, was mich wirklich schockieren könnte, doch jetzt muss ich ihn ansehen. Ich stelle das Weinglas neben mir ab und drehe mich zu ihm um.
    „Es war deine Idee, also sprich.“
    „Ich habe von meinem sechsten bis zu meinem siebzehnten Lebensjahr Ballett getanzt.“
    Es fällt mir schwer, ihm das abzunehmen, auch wenn mich die Vorstellung zum Lachen bringt.
    „Ich glaub dir kein Wort. Wenn du drauf bestehst, dann will ich das irgendwann mal sehen.“
    „Nur über meine Leiche.“
    Unter meinen Fingerspitzen fühle ich, wie ein Lachen seinen Brustkorb erschüttert. Schon wieder findet meine unverbundene Hand den Weg auf sein Herz. Er ist so lebendig.
    „Ich bin keine Frau, die wegen jedem Mist in Tränen ausbricht. Aber es gibt eine Sache, die mich garantiert zum Heulen bringt: Wenn meine Mama weint. Ich weiß nicht, was das ist, aber auch heute noch, mit fast 30, bringt mich das völlig aus der Fassung. Ist das merkwürdig?“ Es könnte zumindest ein Grund sein, warum ich es in letzter Zeit vorziehe, sie wütend zu machen.
    „Überhaupt nicht. Ich kann das nachvollziehen. Vielleicht ist das tief in unsere Gene programmiert. Es gibt für Kinder keinen eindeutigeren Indikator für den Weltuntergang, als zu sehen, wie das stärkste Glied der Familie Schwäche und Überforderung zeigt.“
    „Siehst du das so? Dass Mütter das stärkste Bindeglied einer Familie sind?“
    „Auf jeden Fall. Es gibt sicher auch Ausnahmen, aber ich habe einen Heidenrespekt vor meiner Mutter. Es gibt ein paar Dinge, über die reden wir irgendwann mal, aber aufgrund dieser Sachen kann ich sagen, dass meine Mutter alles tun würde, um mich zu schützen. Auch heute noch. Mein Vater ist gestorben, als ich 17 war, doch trotz allem, was damals passiert ist, hat sie unmissverständlich klar gemacht, wer das Oberhaupt der Familie ist. Natürlich habe ich sie als Teenager oft dafür gehasst, aber jetzt habe ich einfach nur jede Menge Respekt für sie übrig. Ich wäre heute an einem ganz anderen Platz in meinem Leben, wenn sie nicht gewesen wäre.“
    All das klingt recht dramatisch und es macht mich wahrscheinlich zu einem ziemlichen Arschloch, dass ein Teil von mir gar keine weiteren Einzelheiten wissen will.
    „Jetzt bist du wieder dran.“
    „Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe, gehst du mir nicht mehr aus dem Kopf. Seit wir das erste Mal miteinander gesprochen haben, fantasiere ich darüber, wie du schmeckst. Seit wir uns geküsst haben, bin ich praktisch dauerhart und kann an nichts anderes denken, als endlich in dir zu sein.“
    Ehe ich auf seine Aussage reagieren kann, hat er mich eng an sich gezogen. Mit einem Griff an meine Oberschenkel spreizt er meine Knie und lässt mich auf seinen Hüften nieder. Er stellt sein Weinglas auf den Tisch und nimmt die Kamera, die er aus dem Atelier mit herübergebracht hat, vom Couchtisch, um sie einzuschalten. Mit ein wenig Abstand beobachtet er mich auf dem kleinen Display und drückt immer wieder auf den Auslöser.
    „Ich bin eine Witwe.“ Das wissen zwar viele Leute, doch ich muss das vor ihm aussprechen.
    „Ich weiß, Helena.“
    „Woher?“
    „Weil der Abdruck an deinem rechten Ringfinger wie eine Narbe ist, die dich an eine Verletzung erinnert. Wenn du nervös bist,

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