Durch den Wind
Sie könnte neben ihm herlaufen, und die Schneeflocken würden ihn so unbeschwert berühren, wie anfangs auch sie es gekonnt hatte. Und sie würde es den Schneeflocken gönnen und ab und zu einer zuzwinkern, die an seiner Brust hängen geblieben war und dort schmolz.
Vielleicht sollte sie noch das Schneekapitel im Zauberberg lesen, bevor sie ins Café aufbrach. Dort schneite es so maßlos. Sie stand auf, ging ans Bücherregal, schlug das Buch auf, und gleich mit der ersten Seite eröffnete sich wieder das gesamte ersehnte Davoser Spektrum: von der geisterhaften Zartheit über das diamantene Aufglitzern zu dem Chaos von weißer Finsternis; von dem Urschweigen der großen Winterwildnis über die weißliche Transzendenz zu dem Unheimlichen, Widerorganischen und Lebensfeindlichen der regelmäßigen Kristallometrie .
Und fast hätten die Schneemassen, mit denen Hans Castorp es zu tun hatte, ausgereicht, ihrem Tag (oder zumindest ihren Morgen) eine Form zu geben, da hielt sie plötzlich inne bei dem weißen, wirbelnden Nichts, zwang sich noch eine Seite weiter und blieb dann bei folgendem Satz endgültig stecken: Blindlings, umhüllt von wirbelnder, weißer Nacht, arbeitete er sich nur tiefer ins Gleichgültig-Bedrohliche hinein .
Gab es eine treffendere Beschreibung für das Nichts? Sie klappte das Buch zu. Es schneite nicht. Hans Castorp war allein, und sie war allein; nur dass er sich seine Einsamkeit und Verlorenheit wünschte, um sich von den unbeherrschbaren Mächten der Natur berühren und verschlingen zu lassen, während sie hinter einer Glasscheibe saß, vor der Topfpflanzen wuchsen. Davos war so fern. Sie war sicher, dass man von Berlin dorthin tagelang unterwegs war. Sie schaute sich um, schaute aus dem Fenster – keine einzige Schneeflocke. Die Zeit durfte sich also ungestört vor ihrem Fenster ausbreiten und den Sonntag in die Länge ziehen, und sie war nicht auf dem Berghof, wo sie dieses Schicksal mit anderen Wartenden teilen könnte. Sie machte keine Liegekur, sie war mitten in Berlin – und sosehr sie diese Stadt auch liebte, wenn man sonntags allein war, war sie die Pest.
Doch kurz bevor sie sich einen Tuberkuloseanfall wünschen konnte, rief sie Tom an. Die Zahlenfolge seiner Nummer, die sie in den letzten drei Wochen so oft nicht gewählt hatte, hatte sich in ihr Gedächtnis gefräst. 880 380 38 – vier Achter und zwei Nullen. Gegen diese Häufung von Zeichen für die Unendlichkeit kamen die beiden Dreier natürlich nicht an, zumal sie sich drehen und zusammenschieben ließen. Als sie die letzte Acht gewählt hatte, legte sie den Hörer auf – er war ja gar nicht zu Hause, er war bei einem Freund. Sie legte den Kopf in den Nacken, atmete durch und wählte seine Handynummer. Das war etwas anderes. Ihn bei einem Freund anzurufen war etwas anderes, aber sie tat es trotzdem, weil es nicht schneite und Thomas Mann ihr ein Stück Gleichgültigkeit im Bedrohlichen des sonntäglichen Nichts geschenkt hatte.
Tom hob ab, und sie sagte nichts.
»Fritz«, sagte er, »guten Morgen.«
Sie schloss die Augen. Unendlichkeit blieb Unendlichkeit, sie nickte, legte auf und zeichnete mit dem Finger eine Acht in ihr Marmeladenbrot. Das dunkle Rot der Johannisbeermarmelade verwischte und legte das Weiß der Butter frei. Ein weißer Achter mit roten Spuren vor ihr auf dem Teller. Ihr Telefon klingelte.
»Was soll das?« fragte er. »Ich dachte, du wolltest mit mir reden.«
»Ich will nicht mit dir reden«, sagte sie mit einer Stimme, die heute noch nichts gesagt hatte, »ich will, dass es schneit.«
Tom atmete hörbar ein und sagte dann: »Ich gehe jetzt unter die Dusche, das ist mir zu kompliziert. Wenn du ausgeschlafen hast, kannst du dich ja noch einmal melden.«
»Mach ich«, sagte sie.
Dann legte er auf, und das Tuten des Telefons erfüllte die Küche, wie es kein Schnee der Welt je gekonnt hätte.
Alison saß in einem Café, trank die ersten Schlucke und versuchte noch einmal, Victor zu erreichen. Ihre Finger zitterten. Sie war zu fragil, um seinem Verschwinden etwas entgegenzusetzen – keine Vernunft, keine Wut, kein Abwarten. Allein die Möglichkeit seines Verschwindens hatte den Damm, den sie sich über Jahre aufgebaut hatte, überflutet. Ihre roten Haare hingen schwer über die Schultern, sie hatte ihr Zopfband verloren. Es war nicht nur ein Missverständnis, die Vorboten tauchten nun aus allen Ecken ihrer Erinnerung auf.
Und es war immer noch Sonntag. Ein Croissant lag vor ihr auf dem
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