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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Teller, das hatte sie immerhin bestellt, auch wenn sie es nicht aß, auch wenn jetzt wieder eine Zeit kam, wo sie kaum etwas essen können würde. Die Croissants sind heute besonders luftig und leicht, hörte sie die rothaarige Kellnerin sagen. Ihres war alles andere als luftig, viel eher schwer wie ein Stein und unfähig, auch nur einen Millimeter durch die Lüfte zu fliegen. Selbst wenn es einem Bumerang glich. Vielleicht hatte es sie sogar schon getroffen.
    Dass sie sich am Kopf rieb, hörte sie wie unter Wasser. Alle Gedanken kreisten in einer Flüssigkeit, welche die Geräusche dämpfte. Eigentlich kreisten sie nicht in ihr, sondern um sie herum, sie zogen Kreise, umkreisten sie und legten immer engere Ringe um sie. Victor war nicht gekommen, er hatte nicht angerufen, er hatte keine Nachricht hinterlassen, er war weg. Wie sollte sie jetzt wieder nach Hause gehen? In diese Wohnung, in der sie entweder nichts in die Hand nehmen konnte oder alles durchwühlen, nach Hinweisen durchforsten musstewie ein Einbrecher, ein Einbrecher in ihrer eigenen Wohnung. Vielleicht war der Diebstahl ihrer Kleidertüten ein Hinweis gewesen, den sie hätte ernst nehmen müssen? Aber ein Hinweis worauf? Und was hätte sich damit geändert?
    Die gekrümmte Form des Croissants, das Kreuz auf der Werbebroschüre vor ihr auf dem Cafétisch, das gelbe Chamäleon auf dem schwarzen Lack des Rollers gegenüber. Alles schien eine Bedeutung zu haben, die sie nicht entschlüsseln konnte. Sie fühlte sich umzingelt von Zeichen, die wahrscheinlich alle zu einer großen Verschwörung gehörten. Sie trieb direkt in einen Teil ihrer Kindheit zurück, den sie eigentlich nicht mehr wiedersehen wollte, so als hätte sie nicht in der Zwischenzeit gelernt, dass man das Leben gestalten konnte und ihm nicht ausgeliefert war.
     
    Das Lachen der rothaarigen Kellnerin drang zu ihr durch. Vielleicht sollte sie etwas Vernünftiges tun, etwas, das man in einer solchen Situation vielleicht tun würde, wenn man bei Sinnen wäre. Nachforschungen anstellen und nicht über die Flugfähigkeiten von französischen Backwaren nachdenken. Die deutsche Botschaft in Japan anrufen. Sie ließ ihren Kaffee stehen, ging hinaus und wählte die Auslandsauskunft, dann ließ sie sich mit der deutschen Botschaft in Japan verbinden. Eine höfliche weibliche Stimme meldete sich und fragte, wie sie ihr helfen könne.
    Helfen? Helfen.
    »Hallo?« fragte die Stimme erneut.
    Sie räusperte sich und fragte mit einer Geradlinigkeit, die sie sich blitzschnell verordnet haben musste, ob es in Tokio einen verletzten Deutschen geben würde; sie nannte Victors Namen.
    Die Stimme am anderen Ende bat sie zu warten und verband sie weiter. Es knackte kurz, dann ertönt die Musik der Warteschleife.Beethoven, natürlich Beethoven. Irgendwie hatte sie die Titelmelodie von Heidi erwartet, Oh, so grün sind die Berge. Aber Heidi war ja gar keine Deutsche, Heidi war Schweizerin. Immer noch Beethoven. Der Zeichentrickfilm ihrer Kindheit, in dem alle wie Japaner aussahen, selbst wenn sie blond waren. Es knackte wieder, Beethoven verstummte, und eine weitere weibliche Stimme meldete sich und fragte genau wie die erste, wie sie ihr helfen könne.
     
    Diese Stimme.
     
    Diesmal konnte sie noch weniger mit der Frage anfangen, und fragte: »Haben Sie was mit der Verletzung zu tun?«
    Die Stimme am anderen Ende der Leitung – diese Stimme – schien die Frage nicht sonderlich zu irritieren, sondern fragte: »Um welchen Namen geht es?«
    Es rauschte. Tausende von Kilometern Telefonkabel zwischen Berlin und Tokio. Dann kam: »Es tut mir leid, uns ist nichts dergleichen bekannt. Weder Tote noch Verletzte.«
    Danach hatte sie nicht gefragt. Sie hatte nicht gefragt, ob jemand zu Tode gekommen sei. Sie überlegte kurz, ob es jetzt an der Zeit war, in das Café zu gehen und das Croissant zu schmeißen – gegen die Fensterscheibe oder in irgendein Gesicht –, da meldete sich die Stimme erneut: »Lassen Sie uns Ihre Adresse da, dann melden wir uns bei Ihnen, sobald wir irgendwelche Informationen haben.«
    Sie nannte ihren Namen, Vor- und Nachnamen: Alison Ginster, und ging zurück in das Café. Wieder das Rauschen. Diesmal mit einem unangenehmen Knistern – die Leitungen schienen zu eng für ihren Namen, dabei fand sie immer, dass ihr Name federleicht klang. Keine Antwort. Sie setzte sich wieder auf ihren Stuhl.
    »Hallo?« fragte Alison, »hallo?«
    »Doch«, antwortete die Stimme. »Es ist nur ... der Name ...

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