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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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auch in Berlin gab, vergaß sie immer wieder. Sie waren in Wilmersdorf, und es sah aus wie bei Bette Davis zu Hause.
    »Einen Sherry«, fragte Vera, und sie flüsterte, sie nehme Antibiotika, und wenn sie ehrlich sein solle, hatte sie schon Kakao mit Rum.
    »Na, umso besser, du musst ja schließlich gesund werden«, antwortete Vera und goss ihr Glas voll. Sie hielt das Glas hoch und prostete ihr zu: »Auf dich, meine Schöne!« Dann schaute sie sie musternd an: »Schön bist du und traurig.«
    Da öffnete sich die gegenüberliegende Tür, und Albert kam herein. Er trug eine Kordhose, ein hellblaues Hemd und einen kanarienvogelgelben Schal, der direkt unter dem Kragen geknotet war und ziemlich deplaziert aussah.
    »Albert ist auch mal wieder krank«, sagte Vera mit einem Zwinkern in den Augen, »er liebt es, krank zu sein, ständig ist er krank, und bei jedem kleinen Schnupfen bindet er sich seinen rotzgelben Schal auf diese alberne Art.«
    Albert antwortete nicht und würdigte Vera keines Blickes, sondern ging direkt auf Siri zu, küsste ihr die Hand und sagte: »Gut siehst du aus.« Dann fragte er Vera im Weitergehen, ohne sie dabei anzuschauen: »Hast du vor, dich schon am Vormittag lichterloh zu betrinken?«
    Daraufhin sagte Vera mit einer ausladenden Handbewegung, bei der die Armreife erneut gegeneinanderschlugen: »Mir bleibt nichts anderes übrig, so kommt wenigstens etwas in Fluss hier.«
    Albert winkte ab, ohne sich umzudrehen, ahmte ein Wasserrauschen nach und verschwand durch den langen Gang nach hinten. Vera zwinkerte ihr zu, und sie musste lachen. Siri liebte Albert, und das nicht nur, weil er aussah wie der junge Howard Hughes.
    Jetzt drehte Vera an dem großen Ring, der an ihrem kleinen Finger steckte, und wendete sich ihr zu: »Was liegt dir denn auf dem Herzen? Warum bist du gekommen?« fragte sie sanft.
    Sie versuchte durch die Nase zu atmen, sie wollte nicht weinen: »Ich ...«, setzte sie an und wischte sich die Träne aus dem Augenwinkel, bevor sie über die Wange laufen konnte.
    »Was ist mit dir?« fragte Vera, »ist was passiert?«
    »Ach«, sagte Siri jetzt weinend, »dass Großmutter gegangen ist und Eduard so ..., ich weiß auch nicht, ich weiß nicht, was los ist mit meinem Leben. Alles ist auf den Kopf gestellt. Allein heute: meine Nachbarin – sie hasst ihren Mann, vielleicht ist sie lesbisch. Warum lebt sie dann nicht mit einer Frau? Warum tut sie sich das an – so ein Leben? Das zeigt doch, dass alles in den falschen Bahnen läuft, oder? Ich verstehe das alles nicht.«
    »Eine Lesbianerin?« fragte Vera, »Pfui! Nichts für mich. Aber das ist ja auch vollkommen egal. Ich bin da altmodisch, wie du weißt. Aber selbst die würde ich mit offenen Armen empfangen: alles, was dir hilft, glücklicher zu werden.«
    Siri lachte durch den Tränenschleier hindurch: »Das heißt nicht Lesbianerin.«
    Vera winkte ab: »Wenn’s ernst wird mit der Vokabel, kannst du sie mir ja noch einmal beibringen, ja? Weißt du, schon als kleines Mädchen warst du schöner und trauriger als die anderen. Und schon als kleines Mädchen haben dich andere Menschen so sehr erschöpft. Weil du sie dir nicht vom Leib halten kannst, weil du ihre Erwartungen mit jedem Atemzug in dich hineinholst und deine Lungen nicht für diesen ganzen Bitterkram gemacht sind. Schon mit vier Jahren hast du mit dem Knie gegen die Tischkante getreten, wieder und wieder, wenn es keiner gesehen hat, weil du deine Ruhe haben wolltest und dich nicht getraut hast, das einfach zu sagen. Nur wenn man dich aus dem Zimmer tragen musste, warst du zufrieden. Du warst in dir ein ganz unabhängiges junges Wesen, aber du hast gedacht, dass du das nicht sein darfst.«
    Sie schloss die Augen. Sie wollte aussteigen aus diesem Zug und alleine sein, wohin auch immer es sie verschlagen würde. Sie wollte Felix auf den Arm nehmen und mit ihm aussteigen. Es war der falsche Zug.
    »Charlotte hat mir das nie geglaubt, aber ich verstehe dich«, sagte Vera. »Du nimmst alles wahr, bist scheu und hast eine riesengroße Klappe – das zehrt! Ich weiß, wovon ich spreche.«
    »Großmutter? Was ist nur mit ihr? Was macht sie da? Ich verstehe das alles nicht«, sagte Siri.
    Vera streichelte ihren Kopf und bedeutete ihr, sich auszustrecken und auf das Sofa zu legen. Sie schob ihr ein Kissen unter und legte eine Decke über sie: »Schlaf erst einmal, schlaf. Alles andere später.«
     
    Und mit dem Rum im Blut schlief sie ein, den Geruch von Veras Parfum in den

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