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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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quatschende Gruppen kamen aus den Mitte-Bars, und sie war allein hier hinter ihren Rolläden inmitten der letzten verbliebenen weißen Dinge, die sie in den nächsten Tag im Preis reduzieren und ausverkaufen würde. Schon als Kind war sie ihre Sachen auf dem Flohmarkt als Erste losgeworden. Sie hatte immer schon den richtigen Ton gefunden und sich auch von klein auf gerne von ihren Dingen getrennt. Nur die Dinge, die sie gefunden hatte, an denen hing sie, von denen trennte sie sich nur höchst widerwillig.
    Die weiße Tasche hatte sie zum Beispiel vor Jahren in Schweden auf einem Flohmarkt gekauft. Und der Inder, der sie ihr verkauft hatte, hatte erzählt, es sei die Tasche gewesen,mit der Salman Rushdies Tante immer einkaufen gegangen war, und dass er nur deswegen in ihren Besitz gekommen wäre, weil er erraten hätte, was sie mit ihr eingekauft hatte. Und bevor er es verraten konnte, hatte sie Edelsteine gesagt (weil sie sofort ein Bild von dieser funkelnden Tante vor Augen hatte), Edelsteine. Der Inder hatte sie angeschaut, war etwas zurückgewichen, hatte ihr die Tasche mit ausgestreckter Hand hingestreckt, den Preis genannt und gemeint, sie dürfe sie erwerben, sie sei ihrer würdig. Und so erwarb sie diese wunderbare Tasche. Sie war ziemlich teuer, natürlich schenkte der Inder sie ihr nicht (dafür war er zu sehr Händler), aber immerhin. Sie hatte die Tasche nie benutzt und sich geschworen, sie in gleicher Art einmal weiterzuverkaufen, weil es einfach zu schön war und weil ein Laden, in dem es so eine Geschichte zu verkaufen gab, nur unter einem guten Stern stehen konnte; und wenn sie dann einmal verkauft werden würde, dann wäre es eben ein Laden gewesen, in dem es so eine Geschichte zu verkaufen gegeben hatte, und das würde seine Anziehungskraft nicht im Geringsten mindern.
    Und nun hatte sie so einen Laden, und die Tasche tat ihre Dienste, sie hatte noch keinen wirklich schlechten Tag, und wenn ein solcher drohte, fing sie an, vor der Tür Limonade zu verschenken, und schon hatte sie die Kinder im Laden und mit ihnen die Mütter. Es kam fast jeden Tag jemand, der sagte, ihr Laden sei irgendwie wunderbar, hätte einen besonderen Zauber oder sei wie aus einer anderen Welt. Und immer wenn sie einen solchen Kommentar hörte, lächelte sie und dachte im Geheimen an Rushdies Tante und ihre Edelsteine. Es hatte noch niemand nach dem Preis für die Tasche gefragt, und sie hatte sich geschworen, niemandem ungefragt davon zu erzählen, auch wenn ihr dies schwerfiel, besonders bei Kunden, die einen Sinn dafür hätten, die diese Geschichte herumtragenwürden, wie man die Tasche herumtragen sollte – stolz und geheimnisvoll.
     
    Wenn sie so temperiert wäre wie Yoko, dann würde sie jetzt nach Hause gehen, ein Glas Milch trinken, Zeitung lesend auf die Müdigkeit warten und dem nächsten Morgen für seine Abkühlung danken. Aber das konnte sie nicht, sie konnte sich nicht von ihrer Sehnsucht ablenken, und sie wollte es auch gar nicht. Sie verriet sich nicht für ein bisschen Nachtschlaf, immer noch nicht, auch wenn das inzwischen eher albern als leidenschaftlich war. Sie hatte immer noch dieses schnell ansteigende Fieber, und sie würde es auch nicht loslassen. Solange in der Küche noch sein Geruch hing und der Bikini auf dem Boden lag, würde sie nicht nach Hause gehen. Außerdem war sie in seinem Geruch mehr zu Hause als in ihrem Bett. In ihrem Bett war sie allein, und hier war die Luft erfüllt von all dem, was vorhin geschehen war. Und es war diesmal kein Phantasma, das sie in Beschlag nahm, sondern etwas ganz Reales: der Duft, das umgekippte Glas auf dem Küchentisch, ein Trenker-Video weniger. Alles auf der Ebene der Poren, nicht der Nerven. Sie strich sich über den nackten Arm. Sie würde ihn morgen früh nicht anrufen dürfen, sonst würde alles wieder von vorne anfangen. Ein Husten genügte. Und alles rutschte – ins Tal.
     
    Ihre Sehnsucht war gefräßig, unersättlich, nicht stillbar. Überall lauerte der Mangel, und überall, wo es nicht zu viel war, fühlte sie sich betrogen. Alles, was nicht dieses Zuviel fütterte, rutschte weg; alles, was nicht dieses Zuviel fütterte, stellte nur Anmerkungen zu einem Text dar, der einen einzigen Namen wiederholte, drei Buchstaben hintereinander, sich tummelnd, türmend, tausendfach: Tom.
     
    Irgendwann schlief sie ein, und als sie wieder erwachte, fiel ihr Blick auf das Telefon. Sie setzte sich auf, ihr Hals spannte, ihr linker Arm war taub. Wie viel Uhr es

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