Durch den Wind
wohl war? Es war immer noch ganz still, aber es dämmerte jetzt. Tom. Sie lauschte in die Stille hinein. Etwas war da zu hören. Vielleicht schneite es draußen. Irgendwie knisterte es, als rieben die Schneekristalle aneinander. War nicht einer der Helden ihrer Texte auch inmitten des größten Unwetters eingeschlafen? Draußen gedämpfte Schritte. Schritte auf Schnee. Tom. Kein Knarzen, dafür war der Schnee noch zu frisch. Was würde sie jetzt dafür geben, eine Schneewelt zu durchwandern, bis es wieder Abend wurde und dieser Tag, an dem Tom nicht angerufen haben würde, vergangen war?
4 Weiß ist keine Farbe
Über Alison flirrte ein elektrifiziertes Bild von Punkten und Linien – das gefürchtete U-Bahn-Netz, das einzige Bild, in dem sich Tokio bis jetzt gezeigt hatte. Es erinnerte sie an ein Kunstwerk, das sie einmal im Hamburger Bahnhof gesehen hatte und das etwas mit Sternbildern zu tun gehabt hatte, wenn sie sich nicht irrte. Sie versuchte durchzuatmen. Erst einmal nur an das Bild denken, an Berlin, den Hamburger Bahnhof – seine klaren Strukturen, seine großzügigen Linien, das kühle blaue Licht. Und Zug fahren, vom Flughafen in die Stadt fahren und an nichts anderes denken.
Yoko war verschwunden, sie war mit ihr in diesen Zug eingestiegen, und jetzt war sie verschwunden. Erst Victor, jetzt Yoko. Und schon wieder hatte sie das Gefühl, dass es kein Unfall war, kein Zufall, nichts, was hätte anders sein können. Schon das zweite Mal in so kurzer Zeit das gleiche Gefühl. Als hätte sie beim ersten Mal etwas falsch verstanden.
Sie war den ganzen Zug auf- und abgelaufen und hatte alles abgesucht, auch die Toiletten. Yoko musste einfach wieder ausgestiegen sein. Sie wollte nicht darüber nachdenken, warum das passiert war, vielleicht war das eine Form von Diskretion, Yoko nicht zu folgen, auch nicht mit ihren Gedanken. Jemanden zu verfolgen, der weg war, machte nicht weniger einsam, als einfach da zu bleiben, wo man einsam war – so viel hatte sie verstanden in den letzten Tagen.
Auf dem Wirrwarr über ihr blinkten nun ein paar Punkte auf. Ob das bedeutete, dass man vom nächsten Halt dorthinumsteigen konnte oder dass an diesen Bahnhöfen Giftgasalarm war, wusste sie nicht. Dann doch eher Umsteigen. Aber wohin sollte sie umsteigen? Sie wusste noch nicht einmal, wie das Hotel hieß, in dem sie wohnen sollten.
Was war nur mit ihrem Leben? Sie wollte nicht alleine durch Japan reisen. Von ihr aus hätte es für immer so weitergehen können. In Berlin mit Victor. Ihre Schaffenskrise und ihre Faulheit wären auch irgendwann wieder vorbeigegangen, sie hätte zwei bis drei Ausstellungen im Jahr gehabt, mit ein bis zwei ganz guten Kritiken und ein paar verkauften Bildern. Sie hätte weiter ihr Geld mit den Zeitschriften-Illustrationen verdient, und irgendwann hätten Victor und sie Kinder bekommen, drei Töchter, wenn es nach ihm gegangen wäre. Mit drei Töchtern wäre er vielleicht auch nicht mehr abgetaucht, sie hätten dieses Loch vielleicht geschlossen, aus dem er immer wieder fiel. Dann säße sie jetzt jedenfalls nicht alleine in einem überfüllten japanischen Zug.
Das Leben mit Victor war so nah gewesen, dass sie noch nicht einmal versucht hatte, danach zu greifen. Und nun wusste sie auch nicht mehr, in welche Richtung ihre Hand tasten sollte. Vielleicht hätte sie doch danach greifen sollen, vielleicht wäre Victor noch hier, wenn sie ein Kind gehabt hätten, oder zwei oder drei. Vielleicht musste man doch ein paar der offenen Räume schließen, wenn man in die Dreißiger kam, vielleicht war es nicht möglich, so viele Räume offenzuhalten, vielleicht hielt man das nicht mehr aus; vielleicht ging es genau um diese Balance: welche Räume man offenließ und welche man schloss. Vielleicht war zu viel Freiheit in diesem Alter ein Schicksal, das nur wenige aushielten. Vielleicht. Jedenfalls hatten sie keine Kinder, hatten es noch nicht einmal versucht, und Victor war nicht bei ihr.
Ihr gegenüber saß eine junge Frau mit einem kleinen Jungen, der sie ansah, als käme sie von einem anderen Stern. Vielleicht stimmte das sogar, vielleicht kam sie auch von einem anderen Stern, und vielleicht würde sie nie Kinder haben, nicht einmal einen Sohn. Nie – weder mit Victor noch mit einem anderen Mann. Sie war schon dreiunddreißig. Dreiunddreißig und allein.
Sie versuchte die beiden Dreier herunterzuschlucken, aber sie sperrten sich, verkeilten sich und steckten nun fest in ihrer Kehle. Mit
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