Durch den Wind
diesem Kloß im Hals kam sie sich noch mehr wie eine Frau von einem anderen Stern vor, eine Außerirdische mit Adamsapfel, in dem ihr Alter feststeckte. Sie schluckte, aber es rührte sich nichts. Jetzt würde gleich etwas passieren, sie würde in Tränen ausbrechen oder rot anlaufen. Sie nahm ein Haarband aus der Tasche und band sich die Haare zusammen.
Der kleine Junge gegenüber fragte seine Mutter offensichtlich über sie aus, aber die Mutter ignorierte die Fragen und schaute weiter aus dem Fenster. Also schaute sie auch aus dem Fenster, streckte ihre Arme über ihre Schultern nach oben und begann, noch ganz vage, sich vorzustellen, dass man sich so etwas wünschen konnte: Alleine einen Weg zu gehen.
Grau war es, dieses Japan, das sich im Vorbeifahren zeigte, und außer den Plakaten mit den Schriftzeichen viel weniger fremd als erwartet. Sie hielt die Füße über dem Boden, als müsste sie gleich bremsen oder etwas abfangen. Langsam bemächtigte sich Tokio der Vorstädte. Der Verkehr wurde mehr, die Autos, die Fußgänger, die Straßenzüge wurden größer. Unendlich viele kleine Fenster in Wolkenkratzerfronten und eigenartig gleichförmige Häuserformationen. Die Geschwindigkeit des Straßenflusses kam ihr anders vor als in allen Ländern, in denensie bisher gewesen war. Der Verkehr floss schneller, die Fußgänger gingen schneller, und gleichzeitig erschien alles insgesamt langsamer. Vielleicht weil es kaum abrupte Wendungen gab, kaum jemand, der plötzlich quer ging, und kaum jemand, der bremste, stehen blieb, weiterging. Dafür war hier wohl zu wenig Platz. Auf der linken Seite eine riesige Schwimmhalle. Der rote Badeanzug.
Der kleine Junge gegenüber zupfte nun seine Mutter am Ärmel, um ihr zu zeigen, dass die Frau vom anderen Stern weinte. Sie drehte ihren Kopf weg, und da bemächtigte sich ihrer die Sehnsucht, wie sich Tokio der Vorstädte bemächtigt hatte. Wie sie es vermisste, die Frau seines Lebens zu sein. Was für eine Frau würde sie sein, wenn sie nicht mehr die Frau seines Lebens war?
Die Mutter gegenüber sagte jetzt etwas Strenges, murmelte in Alisons Richtung eine Entschuldigung und setzte sich auf die andere Seite.
Sie weinte einfach weiter, und durch den Tränenschleier hindurch blinkten die Leuchtreklamen Tokios.
Als der Zug nach einer langen Ansage, in der irgendwo die Wörter Tokio Mainstation versteckt waren, endlich hielt, wischte sie sich die Tränen aus den Augen, versuchte sich aufzurichten und stieg aus. Sie wartete, bis alle anderen Passagiere an ihr vorbeigelaufen waren. Der kleine Junge wollte ihr mit einem scheuen Blick winken, aber die Mutter zog ihn weg, als hätte er etwas Indiskretes getan.
Neben ihr stand ein Getränkeautomat. Sie holte ihre Sonnenbrille und den Lippenstift heraus und zog ihre Lippen nach, dann steckte sie eine Münze in den Schlitz des Getränkeautomaten und drückte auf den Schalter neben der hellgrünenDose mit den stilisierten Bambusstäben. Kurz passierte gar nichts, dann ratterte es, und eine dunkelbraune Dose mit beigefarbenen Comic-Wolken fiel in die Lade. Eiskalter, zuckersüßer Milchkaffee. Jetzt eine Zigarette. Wenn Victor schon nicht mehr in ihrer Nähe rauchte, dann rauchte sie wenigstens in ihrer Nähe.
Ein Mann kam auf den Bahnsteig gelaufen, schaute auf die Tafel, die die Ankunftszeit des Zuges angezeigt hatte, dann den leeren Zug entlang. Er sagte etwas vor sich hin, legte sein Gesicht kurz in beide Hände und steckte sich auch eine Zigarette zwischen die Lippen. Als er sie anzündete, entdeckte er sie. Sie drückte ihre Sonnenbrille mit dem Zeigefinger auf den Steg. Er nahm einen Zug und ging dann langsam auf sie zu. Als er vor ihr stand, fragte er in gutem Englisch: »Worauf warten Sie denn?«
Und sie antwortete mit verschnupfter Stimme: »Aufs Ankommen, glaube ich.« Sie nahm einen Zug, schaute ihn noch einmal kurz an und fragte dann: »Und Sie?«
»Zu spät«, sagte er, »und diesmal, fürchte ich, zum letzten Mal. Sie hat mir nicht einmal fünf Minuten gegeben.«
Sie schwieg.
»Yoshihiro«, sagte er dann, »mein Name ist Yoshihiro. Darf ich Ihrem Koffer helfen?«
»Fragen Sie ihn«, antwortete sie und lächelte ihn an.
Sie konnte schon wieder lächeln.
»Der wird leichter zu überreden sein als Sie«, sagte er und lächelte zurück.
Da irrte er sich, dachte sie, und sie gingen gemeinsam den Bahnsteig entlang Richtung Ausgang.
Yoshihiro lotste sie zum Taxistand. »Wo wohnen Sie?« fragte er, als sie
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