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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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die Flasche leer und ließ den Abend kommen. Wenn es so war, musste sie ihn nicht fragen. Dann war alles möglich.

 
    Es hatte an der Tür geklingelt. Siris Kopf dröhnte noch immer, aber das Dröhnen klang schon wie ein Echo des gestrigen Tages, als hätte sie gestern stundenlang gegen eine Felswand gerufen. Es musste Mittag sein, die Sonnenstrahlen waren kräftig und färbten den Vorhang ihres Schlafzimmers in ein goldenes Licht. Sie zog sich einen Morgenmantel an, band den Gurt zu einer halben Schleife, steckte ihre Haare hoch, und während sie zur Tür ging, dachte sie, dass sie den Rest ihres Lebens im Morgenmantel verbringen könnte.
    Es war Großvater, er sah aus, als käme er gerade von einer Bergpartie.
    »Guten Morgen, ich dachte ... Eduard hat mich angerufen und mir gesagt, dass ich mal ... du bist krank?« sagte er.
    Er stand wie ein Fels ohne Brandung.
    »Ich weiß nicht«, sagte sie leise und zog den Gürtel etwas fester. Sie hatte noch ein Nachthemd unter dem Morgenmantel. Sie trat zur Seite, fasste ihn an der Schulter und gab ihm einen Kuss. Irgendwie wollte sie ihm Trost zusprechen, auch wenn alles an ihm so aussah, als bräuchte er ihn nicht. Er hatte den Brief schließlich nicht gelesen. Sie ging den langen Gang entlang zu ihrem Schlafzimmer zurück. Wenn er ihr jetzt Trost zusprechen würde, dann kam die Zukunft im Morgenmantel noch näher. Im Bett zog sie ihre Decke bis unter den Hals und verschränkte die Arme.
    »Was hast du?« fragte er.
    »Ich ... Fieber, der Kopf, die Ohren. Schon wieder, aber darum geht es nicht. «
    Großvater beugte sich zu ihr: »Warum nicht?«
    Sie schaute ihn fragend an. Sie wollte jetzt nicht über sich reden. Sie wollte jetzt nicht darüber reden, warum sie ihre Zukunft im Morgenmantel verbringen würde und warum sie das nicht einmal schockierte.
    »Ich kann es kaum mit ansehen, wie oft du krank bist. Du bist andauernd krank, andauernd.«
    Sie schwieg, hatte überhaupt keine Lust auf so ein Gespräch und hoffte nur, dass es bald vorbei war.
    Aber er fuhr fort: »Man kann sich nicht nur durch Schwäche verändern. Man kann es auch in voller Fahrt.«
    Wovon redete er? Es ging jetzt gar nicht um sie, auch wenn er anscheinend unbedingt über sie reden wollte, und nicht über seine Bergpartie, nicht über Großmutters Abgang, nur über sie. Dabei ging es ihrem Kopf schon besser. Außerdem: Verändern? Volle Fahrt?
    Die Sätze kamen langsam bei ihr an, sie sagte leise: »Wohin denn?« und dachte: Eduard stand still, Großmutter war verschwunden, ihre Eltern schon so lange tot, Felix.
    Er runzelte die Stirn, als schaute er in den schneebedeckten Horizont: »Was meinst du?«
    »Wenn ich nicht einmal weiß, wo ich hin will, klingt volle Fahrt ...«, sagte sie.
    »Da, wo du jetzt bist ...«
    »Nein.«
    »Kranksein ist nicht die einzige Sprache, in der du verstanden wirst. Auch Eduard kann ...«
    Sie schwiegen. Wirklich gesagt hatte sie sowieso schon lange nichts mehr.
    Sie legte ihren Kopf in die Kissen und streckte sich unter der Decke aus. Die Farbe des Morgenmantels war nur eine Nuance dunkler als die der Bettwäsche, und hier im Bett bekamer sogar etwas Gepflegtes, so als hätte sie den passenden Mantel zum passenden Kostüm.
    »Siri ...«, versuchte er.
    Sie wollte nicht über sich sprechen. Er war schließlich verlassen worden, nicht sie. Sie wollte nicht sprechen, und sie wollte ihren Namen nicht hören. Sie richtete sich auf, und plötzlich dröhnte ihr Kopf wieder so, als wäre sie gegen eine Wand gestoßen. Sie fühlte sich wattiert. Nicht einmal Großvaters geliebtes Gesicht, seine geliebte Stimme kam da hindurch.
    »Ich kann nicht mehr«, sagte sie ins Dröhnen hinein, ohne damit zu rechnen, dass man diesen Satz auch hören konnte, so laut war es zwischen ihren Ohren. Aber der Satz war sichtbar zu hören gewesen, er glitt von ihrer Decke auf den Boden und blieb dort eine ganze Weile liegen.
    Dann sagte er: »Das ist doch kein schlechter Anfang.«
    Er schien den Satz auch noch ertragen zu können.
    »Wohin?« fragte sie.
    Er antwortete nicht mehr, sondern hielt sie eine Weile im Arm, den Satz wie ein Pfand in seiner Hand.
    Dann sagte er: »Dass Charlotte nicht beim Bäcker war ...«
    Sie hob die Hand und schaute an die gegenüberliegende Wand.
    »Sie ist in Wilmersdorf. In einer Wohnung, die sie schon seit einer Weile hat.« Er machte eine längere Pause. »Mit Albert.«
    »Albert?« flüsterte Siri.
    »Es ging seit Jahren«, sagte er leise, dann

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