Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
Vom Netzwerk:
»Alison?«
    Yoshihiro schaute von seiner Karte auf: »Alison? Sind Sie nicht Alison?«
    »Ja, aber ich dachte ...«
    »Alison«, sagte er, »Sie sind ganz schön durch den Wind.«
    Er bestellte einen Whiskey.
    »Aber ...«, fing sie an.
    »Meine Freundin«, unterbrach er sie, »meine Freundin hat mich angerufen. Und sie möchte mit mir reden.«
    Sie schwiegen. Der Sake hatte ihren Kopf träge gemacht, das Durcheinander dieses Gesprächs trieb darin umher, ohne dass sie es zu fassen bekam.
    »Kommen Sie mit?« fragte er dann leise, ohne sie anzusehen. »Sie könnten sich einfach an einen Nebentisch setzen, während wir es hinter uns bringen. Ginge das?«
    Sie schwieg.
    »Warum?«
    »Weil ich dann weiß, dass es noch ein anderes Leben gibt.«
    »Wohin?« fragte sie.
    »In eine Bar im Botschaftsviertel.«
    Die Stimme in der deutschen Botschaft. Das Phantom. Hinter jeder Ecke.

 
    Hallo Tom, sollen wir am Wochenende vielleicht zusammen wegfahren? An die Ostsee oder nach Polen? Krakau muss wunderschön sein, und ich war noch nie in Krakau«, sagte Friederike so schnell sie nur konnte.
    Sie hatte es sich nicht vorgenommen, so schnell zu sprechen und ihm gleich eine Reise oder sogar zwei vorzuschlagen, sie war aufgewacht und hatte dann ohne viel nachzudenken zum Hörer gegriffen, und dann waren die Sätze aus ihrem Mund gerollt, blindlings ins Tal.
    Eine Weile lang hörte sie nichts als den Nachklang ihrer Sätze, und sie pfiffen ihr um die Ohren. Jetzt bloß keine Kurve machen, sondern weiter hinab, so als ob es keinen anderen Kurs gäbe, so als ob man gar nicht anders könnte; eine Kurve, sie verkantete sich, und das Gespräch wäre in kurzer Zeit entgleist.
    »Guten Morgen«, sagte Tom in einem Ton, der eher an jemanden erinnerte, der mit einem warmen Becher Kakao auf einer Hütte saß, die Sonne im Nacken, eine karierte Decke über den Beinen.
    »Heißt das ...?« fragte Friederike, ohne ihren Satz zu Ende zu sprechen, darauf konzentriert, irgendwie die Spur zu halten. Sie würde die Beine zusammendrücken müssen.
    »Was?« fragte Tom, immer noch schläfrig und wohlig mit einer von der heißen Schokolade geölten Stimme. Das Bild wurde immer deutlicher, wie er dasaß mit geschlossenen Augen, die Morgensonne genoss und sich die Finger an seinem Becher wärmte.
    Sie versuchte das Tempo etwas zu drosseln. Es war wirklich ziemlich früh, vielleicht hätte sie später anrufen sollen, aber sie hatte gestern den ganzen Tag und die Nacht nicht angerufen, und sie hatte einfach nicht nachgedacht.
    »Heißt das, du kannst nicht?« fragte sie, und schon nahm sie wieder Fahrt auf.
    »Fritz ...«, sagte er, aber sie konnte ihn nicht mehr so deutlich hören, weil der Hang sich bereits in Bewegung gesetzt hatte mit einem leisen, tiefen Grollen und der Schnee sie noch überholen würde, der Boden, auf dem sie fuhr, noch unter ihr hinweggleiten würde – mit seiner unaufhaltsamen Kraft.
    Das weiße Tal.
    Die Farben des gestrigen Tages waren eine Täuschung gewesen. Das alte Spiel.
    »Du kannst nicht ...«, sagte sie, aber sie wusste schon nicht mehr, ob er das überhaupt noch hören konnte. Auch sie hörte sich nicht mehr, ihn nicht mehr, nur noch den Satz, der ihre Fahrt begleitete wie ein altvertrautes Lied: Auf alles schneit es herab, wenn es schneit, schneit es auf alles herab, ohne Ausnahme.
    Es war also wieder so weit.
    »Ich habe ein Konzert«, rief er mit einer wacheren, fast alarmierten Stimme, so als sähe er das Ende genau vor sich, als wüsste er, dass er es nicht verhindern konnte.
    »Ach so«, murmelte sie noch. Und noch einmal diese Stimme in ihrer eindringlichen Melodie, lauter als Toms, einnehmender, wahrer: Wohin man schaut, ist alles schneeweiß; wohin du blickst, ist alles schneeweiß. Und still ist es, warm ist es, weich ist es, sauber ist es. Sich im Schnee schmutzig zu machen, dürfte sicher ziemlich schwer, wenn nicht überhaupt unmöglich sein.
    Sie war wieder zu Hause.
    »Der Bikini sah wirklich ...«, versuchte er es noch ein letztes Mal.
    Bikini im Schnee. Es war zu spät, das Gespräch würde unten im Tal enden, und sie würde auflegen und Prellungen davontragen und ein paar Tage brauchen, um sich wieder davon zu erholen, und er wäre wieder mal verschwunden, so als hätte er die Lawine losgetreten; so als hätte er sie auf dem Gewissen.
     
    Sie schaute auf das Telefon, das vor ihr lag, als wäre nichts passiert. Die weiße Wand ihres Schlafzimmers, die orangefarbenen Vorhänge, die kleine

Weitere Kostenlose Bücher