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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Vase auf dem Nachttisch. Wieder so ein Morgen mit geprellten Knochen, die im Laufe des Tages heilen würden. Vielleicht hätte sie ihm einfach sagen sollen, dass sie vielleicht schwanger geworden war – gestern im weißen Bikini.

 
    Es war alles ineinander übergegangen: der Abschied von ihrem schlafenden Liebhaber, der Weg zurück nach Tokio, die U-Bahn-Fahrt, das Gartentor, die Klingel mit ihrem Namen (den sie im Vorbeigehen in seine lateinische Schreibweise übersetzt hatte), der sauber gerechte Kiesweg bis zur Haustür. So, als hätte es nie Hindernisse gegeben, als wäre schon seit langem festgelegt worden, dass sie heute zurückkehren sollte. In das Haus ihrer Eltern.
    Erst jetzt, mit der Klinke in der Hand, stockte sie. Gleich würde sie die Klinke herunterdrücken, so als wären nicht Jahre vergangen, in denen genau dies unmöglich gewesen war.
    Der Wagen ihres Vaters stand vor der Garage.
    Sie drückte die Klinke herunter.
    Sie – betrat – tatsächlich – gerade – ihr – Haus. Sie. Nicht als Hure, nicht als Tochter, sondern als jemand anderes, den sie noch nicht kannte.
    Auf einmal wollte alles in ihr zurück, aus der Tür heraus, den Film zurückspulen, zurück nach Kioto, ins Flugzeug und nach Berlin, wo man ihren Namen in lateinischen Buchstaben schrieb. Sie öffnete die Tür. Und stand im Flur. Sie hatte immer gedacht, genau an dieser Stelle würde es sie übermannen.
     
    Stimmen aus dem oberen Stockwerk. Die Stimmen ihrer Mutter, ihres Bruders. Geklapper in der Küche. Die Stimme ihrer Schwägerin.
    Nicht die Stimme ihres Vaters.
    Jetzt ein Ruf: Ob jemand gekommen sei?
    Jetzt war sie dran. Sie versuchte etwas zu sagen. Es ging nicht. Ihr Blick heftete sich auf die Wand gegenüber, nur die Gerüche schlichen sich in ihre Nase. Es roch anders. Das Rollbild hing noch an der gleichen Stelle. Vaters Schuhe in dem kleinen Regal. Es war der Geruch, den es nur hier zu Hause gab, aber etwas fehlte, irgendeine ganz markante Zutat war herausgestrichen, gelöscht, getilgt. Unheimlich war das. Es roch nach ihrer Mutter und frisch gekochtem Reis, es roch nach dem Blumengesteck, das im Eingang stand, nach den Kerzen, die ihre Mutter immer in dem kleinen französischen Laden kaufte, und den Tatamimatten, die im Teeraum lagen, alles war wie immer, aber irgendetwas fehlte.
     
    »Hallo?« hörte sie es jetzt lauter von oben. »Ist da jemand?«
     
    Sie schloss die Tür hinter sich, hörte jemanden die Treppe herunterkommen, schweren Schrittes. Wer konnte das sein? Wer war so schwer geworden? Die Schritte hielten inne, blieben stehen. Die schwere Gestalt konnte sie weder gehört noch gesehen haben. Sie flüsterte den Namen ihres Bruders – mit einem Fragezeichen dahinter – und wünschte sich nichts mehr, als dass nicht er es sein möge, der so schwer geworden war, dass sie seine Schritte nicht einmal wiedererkennen konnte.
    Ein leises Stöhnen, dann ein dumpfes Geräusch. Es schien ihn auf die Treppe gedrückt zu haben, und zwar genau auf der Höhe, auf der sie seinen ganzen Körper sehen konnte, aber nicht seinen Kopf. Sie wich zurück: Es war ihr Bruder, und er war ein Koloss geworden. Durch die Fettlagen hindurch schimmerte der Körper, ein paar Konturen hatten sich tapfer gehalten. Er hatte rot angeschwollene Füße und trug eine Jogginghose, durch die sich mehrere Ringe seiner Oberschenkel abzeichneten. Über seinem gewaltigen Bauch spannte einschwarzes Hemd, und der Ehering kniff in seinen kleinen Finger wie die Kennmarke eines Schlachtviehs. Ein Koloss ohne Kopf.
    Sie schluckte, ihr wurde übel von diesem ganzen Fett, aber sie versuchte mit aller Macht etwas zu sagen: »Ich bin’s«, flüsterte sie.
    »Was ...?« fragte er.
    »Ich ...«
    »Oh, Gott ... Gott sei Dank«, sagte er dann, während er nach Luft rang, und seine Stimme klang dabei so viel sanfter, als sie es sich je vergegenwärtigt hatte.
    Noch immer sah sie sein Gesicht nicht, aber sein Körper zeigte ihr alles, was sie sehen musste. Ihr Bruder war gebrochen und zusammengehalten von all diesem Fett, doch sein Herz pochte wie das eines Vögelchens.
    Sie bewegten sich nicht.
    »Mit wem sprichst du?« hörte sie auf einmal ihre Schwägerin in der Nähe. Dann stockte auch sie.
    Ihr Bruder erhob sich mit einiger Mühe, dann kam er die nächste Stufe herab.
    Jetzt konnten sie sich sehen.
    Sein Gesicht war unverändert, seine Wangen waren schmal, seine Augen lagen frei in den Höhlen, und die Haut hatte hier nicht den Anflug des rötlichen

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