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Durch den Wind

Titel: Durch den Wind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annika Reich
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Schimmers, der den restlichen Körper überzog. Das Fett stand ihm bis zum Hals. Und in seinem ersten Blick sah sie, wie er auf sie gewartet hatte. Sie schaute zu Boden. All die Tage, in denen sie so unbeschwert durch Berlin gelaufen war, während ihm das Fett bis zum Halse stieg. Sie schämte sich. Sie blickte wieder auf.
    Da breitete sich sein Mund zu einem Strahlen, das genauso überschwenglich wie zögernd war: »Gott sei Dank«, wiederholte er. Er hatte ihr nichts übelgenommen, gar nichts, imGegenteil: er schien sie geliebt zu haben, immer noch zu lieben. Unverbrüchlich.
    Sie hatte einen Bruder gehabt, die ganze Zeit.
    Er breitete seine gigantischen Arme aus, sie umarmten sich, und auf einmal verstand sie sein Fett. Es war da, wenn ihre Mutter scharf schießen würde. Er hatte es gehortet, um sie beide zu schützen. Sein Fett war ihre Burg.
    Sie hörte, wie ihre Schwägerin auf dem Absatz kehrtmachte und zurück in die Küche lief; hörte, wie sehr sie sich bemühte, nicht in Panik auszubrechen, sondern geraden und langsamen Schrittes zu gehen. Sie hörte sie flüstern, und dann hörte sie sie schweigen. Ihre Mutter schien regungslos dazustehen.
     
    »Sie ist gekommen«, rief die Stimme ihres Bruders aus ihrer Burg heraus die Treppe nach oben. Wie mutig er war! Früher war sie es gewesen. Er zog sie die Stufen hinauf, bis sie vor der Küchentür stand und ihre Mutter sie sah.
     
    Sie konnte nicht.
    Sie konnte sie nicht ansehen.
    Sie merkte, wie ihre Mutter ihr auf die gesenkten Lider schaute, wie sie durch die Lider hindurchschaute auf den weißen Teil ihres Augapfels; wie sie ihren Blick in das Weiß ihres Augapfels bohrte, als würde sie dort Einlass finden. Aber sie konnte sie nicht öffnen, konnte ihren Blick nicht heben, konnte sie nicht anschauen.
    »Sie ist wieder da«, sagte ihr Bruder leise – wieder in dieser Mischung aus unbändiger Freude und Zögern.
    »Wer?« fragte ihre Mutter.
    »Wer?« wiederholte ihr Bruder.
    »Wer?« fragte ihre Mutter erneut, drehte sich um und machte sich wieder an ihre Arbeit.
    Mutters Stimme war gefasst, kühl, beherrscht, aber jetzt zitterten ihre Hände, und sie hätte fast eine Tasse fallen gelassen. Vaters Lieblingstasse.
    Yoko hätte ihr in die Augen schauen müssen.
    Ihr Bruder ruderte mit seinem freien Arm: »Aber ...« Er lockerte die Umarmung ein wenig und zog sie ins Wohnzimmer: »Hast du gesehen? Sie braucht Zeit.«
    Danach ging er in Deckung. Sie wusste, warum: In ihrer Jugend war sie die Scharfschützin gewesen, und ihr Bruder hatte die meisten Salven abbekommen. Sie hätte ihm am liebsten über den Kopf gestreichelt und ihn umarmt, so wie er sie gerade umarmt hatte. Sie nickte.
    Er entschuldigte sich und verschwand wieder in die Küche. Sie hörte ihren Bruder flüstern, dann hörte sie einen lauten, dumpfen Schlag. Nach ein paar Sekunden sah sie ihren Bruder den Körper ihrer Mutter, klein und biegsam wie eine Katze, ins Schlafzimmer tragen.
     
    Sie blieb sitzen und starrte an die Wand. Dort hing ein neues Bild. Ein Kranich, so zart hingetuscht, dass seine Beine fast unsichtbar waren. Sie schloss die Augen.
    In der Küche klapperte wieder jemand mit Geschirr. Dann begann die Schwägerin den Tisch zu decken und zwischen der Küche und dem Wohnzimmer, in dem Yoko immer noch regungslos auf dem Sofa saß, hin und her zu laufen. Als sie schon das dritte oder vierte Mal hereingekommen war, hauchte ihre Schwägerin ein »Hallo« in ihre Richtung.
    Sie nickte ganz sachte, obwohl sie sicher war, dass ihre Schwägerin es nicht sehen konnte, weil sie es vermied, sie anzusehen. Das Atmen fiel ihr schwer. Sie hörte ihren Bruder aus dem Schlafzimmer ins Wohnzimmer kommen. Als er vor ihr stand, fasste er sie am Arm: »Du kannst jetzt zu ihr, sie schläft.«
    Sie zögerte.
    »Sie schläft«, wiederholte er.
    Sie schaute ihn an.
    »Es wird dauern«, sagte er und blickte zu Boden.
    Sie nickte, stand auf und ging ins Schlafzimmer.
    Ihre Mutter lag auf der Seite mit angezogenen Beinen. Ihr Körper unter der Decke war immer noch der einer schlafenden Katze, weich, kein bisschen steif oder hart. Ihre Lider waren geschlossen, die Haut so durchsichtig, dass man ein ganzes Netz von Adern erkennen konnte.
    Auf dem Nachttisch stand ein Bilderrahmen mit einem Photo von ihr, auf dem sie vielleicht vierzehn Jahre alt war. Es war keines der Photos, wie sie auf Familienfesten entstanden. Es war aufgenommen, als sie gerade vom Volleyball kam, verschwitzte Haare hatte und eine kurze

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