Durch Himmel und Hoelle
sprang auf, ihren Fluchtplan im Kopf, der ihr die letzten Schlummerfetzen vertrieb. Sie sammelte schnell ihre paar Habselig- keiten ein - ihre Kleider, ein Nachthemd, ein warmes Tuch, den sil- bernen Kamm und die Bürste ihrer Mutter, die sie vor Agatha ver- steckt hatte. Aus einer Ecke der Kommodenschublade zog sie das kleine Fläschchen mit Parfum - Jasmin- und Rosenduft, das ihre Mutter so geliebt hatte, dann nahm sie noch die Pistole.
Vor dem Bett kniend, holte Elysia darunter noch ein sorgfältig eingewickeltes Bündel hervor. Sie wickelte den alten, verschossenen blauen Schal auf und hob ihren liebsten Besitz heraus - eine zierli- che Porzellanpuppe. Ihr kleines, zartes Gesichtchen mit den gemal- ten blauen Augen und dem kleinen Rosenmund starrte sie an. Ely- sias Hände strichen zart die Falten aus ihrem feinen Spitzenkleid, das mit vielen blauen Samtschleifen verziert war. Sie streichelte die dichten blonden Locken, während sie sich an den Tag erinnerte, an dem ihr Vater nach einem Monat aus London zurückkehrte, die Arme voller Päckchen und Geschenke, und sie mit lustigen Ge- schichten über seine Abenteuer erheiterte. Er hatte ihr die kleine Puppe in ihre rundlichen Händchen gelegt und sie voller Freude be- obachtet, wie sie sie mütterlich umarmte, ihre Augen strahlend wie Sterne.
Elysia lächelte, als sie die kleine Puppe wieder einwickelte und sie ganz oben auf die Kleider, unter das dicke Tuch in ihre Strohtasche legte. Diesen kostbarsten Besitz aus ihrem früheren Leben hatte sie sorgfältig vor Agatha versteckt gehalten, wohl wissend, daß sie sie weggeworfen hätte — wie sie es mit all den anderen Andenken getan hatte, die Elysia nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte.
Elysia sah sich rasch im Zimmer um, während sie den schweren Umhang um ihre Schultern warf. Es war ein häßliches Zimmer, diese Dienstbotenkammer, und sie war froh, es verlassen zu kön- nen. Sie nahm ihre Tasche und wollte die Tür öffnen.
Es ging nicht. Elysia drehte den Türknopf auf die andere Seite, aber es bewegte sich nichts. Die Tür war zugesperrt. Agatha hatte ihr nicht getraut und sie eingesperrt. Sie war gefangen!
Elysias Herz klopfte so laut, daß sie glaubte, das ganze Haus müßte die hämmernden Schläge hören. Sie durfte sich nicht ins Bockshorn jagen lassen, sagte sie sich. Sie mußte ruhig bleiben, ob- wohl ihr Kopf dröhnte von dem Blut, das ihr rasendes Herz hinein- pumpte. Sie eilte zum Fenster und blickte hinunter. Es schien ihr, als wäre es Meilen bis zum festen Erdboden. Elysia öffnete langsam das Fenster und betete stumm, daß es nicht quietschen möge. Sie würde vom Dachfenster aus über das Schindeldach klettern müssen, bis zum Rand. Dort wuchs ein starker Efeu, der sich seit Jahren auf dieser Seite des Hauses ungehindert ausbreiten durfte. Die Zweige waren kräftig und dick, und wenn sie vorsichtig war, würde sie si- cher an ihnen hinunterklettern können.
Sie holte ihre Strohtasche, riß die Vorhangschnur ab, band sie am Griff fest und ließ die Tasche langsam über das Dach und an der Hauswand entlang hinuntergleiten, bis die Schnur zu Ende war. Widerstrebend ließ sie sie dann in die Dunkelheit fallen, wo sie mit einem dumpfen Plumps auf der feuchten Erde aufkam.
Dann stieg Elysia aus dem Fenster, setzte sich auf das Fenster- brett und sah hinunter. Unerwünschte und heimtückische Gedan- ken befielen sie - was, wenn sie ausrutschte und hinunterfiel? Nun, sie mußte es riskieren, und außerdem sollte sie sich wirklich keine Sorgen machen, sagte sie sich tapfer, während sie weiter nach unten blickte. Schließlich hatte sie schon viele Bäume und Mauern mit Ian bestiegen, als sie noch ein Kind gewesen war. Sie konnte ihr Gleich- gewicht halten - wovor sollte sie Angst haben?
Sie kletterte aufs Dach und rutschte so leise wie möglich bis zum Rand. Dort ergriff sie eine dicke Ranke, suchte nach einer Stütze für ihren Fuß, beugte sich über den Rand und schwang sich mit einer schnellen Bewegung vom Dach. Sie stieß einen Seufzer der Erleich- terung aus, während sie sich langsam hinunterließ.
Als sie den festen Grasboden unter ihren Füßen spürte, empfand sie eine ungeheure Freude. Sie löste schnell die Schnur von dem Ta- schengriff und eilte hinter das Haus. Als sie den Knopf an der Kü- chentür drehte und hoffte, daß die Köchin vergessen hatte, abzu- schließen, hielt sie den Atem an.
Elysia spürte, wie die Tür leise knarzend nachgab. Elysia schlüpfte durch den
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