Durch Mark und Bein: 4. Fall mit Tempe Brennan
aus?«
»Ja.«
»Sie besänftigten ihre Götter mit dem rituellen Verzehr menschlicher Wesen.«
»Kannibalismus?« Endlich schaute McMahon mich direkt an.
»In großem Maßstab. Als Cortes und seine Männer in Moctezumas Hauptstadt Tenochtitlán eindrangen, fanden sie ganze Haufen menschlicher Schädel auf dem Stadtplatz, andere waren auf Pfähle gespießt. Sie schätzten sie auf über hunderttausend.«
Schweigen. Dann: »Saturn fraß seine Kinder.«
»Polyphem nahm Odysseus gefangen und labte sich an seiner Mannschaft.«
»Warum der Papst?«
»Ich weiß es nicht.«
McMahon verschwand, kehrte gleich darauf wieder zurück.
»Rayner recherchiert das gerade.«
Er schaute auf eine Notiz, kratzte sich am Kopf.
»Rayner hat Géricaults Gemälde gefunden. Das Motiv geht zurück auf das Wrack einer französischen Fregatte mit dem Namen La Meduse aus dem Jahr 1816. Nach der Legende aßen die überlebenden Schiffbrüchigen die Toten.«
Ich wollte eben McMahon meine eigenen Ergebnisse zeigen, als Rayner in unserer Kabine erschien. Wir hörten zu, während er aus seinen Notizen vorlas.
»Ich schätze, die ganze Lebensgeschichte des alten Knaben wollen Sie nicht hören, ich erzähle also nur die Höhepunkte. Papst Innozenz III. ist vor allem als Initiator des Vierten Laterankonzils im Jahr 1215 bekannt. Jeder, der in der Christenheit etwas darstellte, wurde zu dieser Zusammenkunft gerufen.«
Er hob den Kopf.
»Ich formuliere jetzt frei. Als all die Eierköpfe beisammensaßen, dekretierte er, dass von nun an die Worte hoc est corpeum meum wörtlich zu nehmen seien, und dass die Christen an die Transsubstantiation glauben müssten. An die Vorstellung also, dass in der Messe Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi verwandelt werden.«
Er hob wieder den Kopf, um zu sehen, ob wir ihm folgen konnten.
»Innozenz dekretiert, dass dieser Akt nicht symbolisch, sondern real sei. Anscheinend wurde über diese Frage seit ungefähr tausend Jahren diskutiert, und deshalb beschloss Innozenz, den Streit endgültig beizulegen. Von da an machte sich der Ketzerei schuldig, wer an der Transsubstantiation zweifelte.«
»Danke, Roger.«
»Kein Problem.« Er zog sich zurück.
»Wo ist da die Verbindung?«, fragte McMahon.
»Innozenz definierte die heiligste Zeremonie der Christenheit als reales Gott-Essen. Anthropologen nennen das rituelle Anthropophagie.«
Eine Kindheitserinnerung. Eine Nonne in ihrer Tracht, Kruzifix auf der Brust, Kreide in der Hand.
»Kennen Sie den Ursprung des Wortes ›Hostie‹?«
McMahon schüttelte den Kopf.
»Hostia. Das ist Lateinisch für ›Opfertier‹.«
»Sie glauben also, dass wir es mit irgendeiner Randgruppe zu tun haben, die dem Kannibalismus frönt.«
Ich atmete einmal tief durch. »Ich glaube, es ist noch schlimmer als das.«
»Schlimmer als was?«
Wir drehten uns beide um. Ryan stand an der Stelle, wo eben noch Rayner gestanden hatte. McMahon deutete auf einen Stuhl.
»Schlimmer als diese Begeisterung für Mythen und allegorische Darstellungen. Ich bin froh, dass du hier bist, Ryan. Du kannst bestätigen, was ich jetzt zu sagen habe.«
Ich zog Jims Fotos aus meiner Aktentasche und gab das erste McMahon.
»Das ist der rekonstruierte Beinknochen eines Rothirsches. Die Schnitte wurden mit einem scharfen Instrument ausgeführt, wahrscheinlich einem Steinmesser. Beachten Sie, wie sie sich an den Befestigungstellen von Sehnen und Bändern und an den Gelenken häufen.«
McMahon gab das Foto Ryan, und ich gab ihm einige andere.
»Das sind ebenfalls Tierknochen. Achten Sie auf die ähnlichen Verteilungen von Schnittspuren und Furchen.«
Nächstes Bild.
»Das sind Fragmente von menschlichen Knochen. Sie wurden aus derselben Höhle im südöstlichen Frankreich geborgen, in der man auch die Tierknochen fand.«
»Sieht nach demselben Muster aus.«
»Ist es auch.«
»Heißt?«
»Das sind Schlachtspuren. Die Gelenkverbindungen der Knochen wurden mit Schnitten durchtrennt oder abgedreht, das Fleisch wurde abgezogen.«
»Wie alt ist das Zeug?«
»Einhundert- bis einhundertzwanzigtausend Jahre. Die Höhle wurde von Neandertalern bewohnt.«
»Ist das für uns von Bedeutung?«
Ich gab ihm einige andere Abbildungen.
»Das sind ebenfalls menschliche Knochen. Sie wurden bei einer Ausgrabung in der Nähe von Mesa Verde im südwestlichen Colorado gefunden.«
»Anasazi?«, fragte Ryan und griff nach den Fotos.
»Ja.«
»Wer sind die Anasazi?« McMahon.
»Die Vorfahren von Stämmen
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