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Durch Zeit und Raum

Durch Zeit und Raum

Titel: Durch Zeit und Raum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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Intensität, die sie nicht einmal als Kind erlebt hatte, war sich Meg aller ihrer Sinne bewußt. Das Blau des Himmels schmerzte geradezu. Obwohl es in der Dachkammer kalt war, fühlte Meg die warme Luft auf der Haut und hielt ihr Gesicht der Sonne entgegen. Zum ersten Mal nahm sie den Geruch der Felsen wahr, die dampfende Fruchtbarkeit der schwarzen Erde, roch sie den Wind.
    Wie war das alles möglich? Warum war das alles möglich?
    Meg konnte nur das Einhorn sehen. Wo war Charles Wallace?
    Und dann begriff sie:
    Charles Wallace war nach Innen gegangen. Er war in dem Jungen auf dem Felsen, nein: auf eine seltsame, unerklärbare Weise war er selbst dieser Junge, sah durch seine Augen, hörte durch seine Ohren (noch nie hatte der Gesang der Vögel so kristallklar geklungen!), roch durch seine Nase – und kythete ihr, Meg, alles zu, was seine neu erwachten Sinne wahrnahmen.
    Gaudior wieherte leise. »Vorsicht!« warnte er. »Du bist nicht mehr Charles Wallace Murry. Du mußt dich so verlieren, wie immer dann, wenn du mit deiner Schwester kythest. Du mußt dein – dein Gastgeber werden.«
    »Mein – Gastgeber…«
    »Harcel vom Stamm des Windvolks. Du darfst nicht mehr wissen als er. Wenn du Gedanken fassen willst, die sein Verstand nicht begreifen kann, halte sie von ihm fern – oder verzichte am besten ganz darauf.«
    Charles Wallace regte sich zaghaft in Harcels Innerem. Wie hätte er, er selbst, auf einen fremden Eindringling reagiert? War er vielleicht schon einmal von jemandem – besessen worden?
    »Nein!« beruhigte ihn Gaudior und wandte sich dabei nur an jenen Wesensteil von Charles Wallace, der nicht völlig in Harcel aufgegangen war. »Wir senden keinen nach Innen, außer wenn die Gefahr so groß wird, daß…«
    »Daß…?«
    Das Licht im Horn begann zu flackern. »Du weißt, was geschieht, wenn dein Planet in einer gewaltigen Explosion aufhört zu bestehen. Du kennst die Folgen – oder doch einige.«
    »Einige. Ja«, sagte Charles Wallace steif. »Zum Beispiel, daß das kosmische Gleichgewicht gestört wird und unsere Sonne zu einer Supernova zerplatzen könnte.«
    »Zum Beispiel. Alles, was in der Schöpfung geschieht und in die vorgegebene Ordnung eingreift, und sei es noch so gering, hat Folgen. Wenn du zornig bist, stärkt dein Zorn den geballten Haß der Echthroi und hilft mit, die Unvergängliche Musik zu stören, die Uralten Harmonien zu bedrohen. Deine Liebe und Zuneigung hingegen trägt zum Gesang der Sphären bei.«
    Charles Wallace spürte, wie ihn plötzlich alle Zuversicht verließ. »Gaudior, was soll ich denn jetzt in diesem Harcel anfangen?«
    »Fürs erste könntest du dich einfach daran vergnügen, ein Stück von ihm zu sein«, schlug das Einhorn vor. »In diesem Wann genießt die Welt noch die Unvergängliche Musik.«
    »Kann er dich sehen – so wie ich dich sehe?«
    »Natürlich.«
    »Es überrascht ihn gar nicht.«
    »Weil er sich an meinem Anblick freut. Warum sollte er ihn überraschen? Entspanne dich, Charles. Kythe mit Harcel. Sei Harcel. Laß dich in ihm aufgehen.« Er stemmte die Hufe gegen den Boden, sprang in einem großen, graziösen Bogen vom Felsen hinunter und trabte in den Wald.
    Harcel stand auf und streckte sich wohlig. Dann hüpfte auch er vom Felsen, leichtfüßig, als könne er der Schwerkraft trotzen, landete im weichen Gras, überschlug sich lachend, sprang auf die Beine und lief zum See. Unterwegs scherzte er mit den Kindern, den Webern und den Töpfern.
    Am Ufer stand er ganz still und kapselte sich allmählich von dem bunten Treiben ab, das ihn umgab. Er spitzte die Lippen, pfiff den langgezogenen lockenden Ton und rief leise: »Finna, Finna, Finna!«
    Weit draußen auf dem See teilten sich die Wellen, und ein schlankes, geschmeidiges Tier schwamm, sprang, schnellte heran. Harcel stürzte sich ins Wasser und schwamm ihm mit kräftigen Stößen entgegen.
    Finna ähnelte einem Delphin, war aber nicht ganz so groß und hatte eine blaugrün schimmernde Haut. Auch ihre Schnauze zeigte das unwiderstehliche Lächeln der Delphine, und gleich ihnen fühlte sie sich im Wasser wie in der Luft daheim. Als sie Harcel erreichte, begrüßte sie ihn mit einer hohen Fontäne und spritzte ihn dabei von oben bis unten an, was der Junge mit herzhaftem Lachen hinnahm.
    Eine Weile rangelten sie miteinander, dann saß Harcel auf, und Finna ließ ihn auf ihrem breiten Rücken reiten. Harcel klammerte sich an, und sie flogen durch die Luft und tauchten bis fast auf den Grund.

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