Durch Zeit und Raum
ihr dahin. Charles Wallace war nicht sicher, ob ihm eine solche, wenn auch geringfügige, Einmischung gestattet war; eines aber wußte er: Wenn Harcel erst einmal das Treiben der Stämme erkundete, die sich aufs Töten verstanden, würde er seine Freude und seine Unschuld verlieren.
»Du hast das einzig Richtige getan!« kythete Meg ihm rasch zu. »Das einzig Richtige!«
Wieder schaute sie auf die Uhr. Die Zeiger hatten sich kaum bewegt. Während in jenem anderen Wann, das Charles Wallace in Harcel barg, die Jahreszeiten einander in rascher Folge ablösten, hielt die Zeit in Megs Jetzt und Heute still. Sie verging nur dort, wo die ihr vertraute Umgebung so anders war: der Sterngucker-Felsen ein kleiner Berg, das grüne Tal ein weiter See, das Wäldchen ein dunkler Wald.
Meg seufzte. Sie sehnte sich nach diesem Zeitalter, das eine Freude kannte, die geradezu unwirklich schien.
Ananda winselte und schaute Meg aus großen, ängstlichen Augen an.
Meg erschrak. »Was ist geschehen?« Sie hörte Gaudior wiehern und sah das Silberlicht in Gaudiors Horn pulsen.
Charles Wallace saß auf Gaudiors breitem Rücken, wieder er selbst geworden, und betrachtete Harcel, in den er sich geteilt hatte, um von nun an und für immer auch seine freudvolle Unmittelbarkeit zu teilen. Sanft preßte er seine Wange an den silberweißen Hals des Einhorns und flüsterte ihm zu: »Ich danke dir!«
»Nicht mir hast du zu danken!« schnaubte Gaudior. »Nicht ich entscheide, in wessen Inneres du gehst.«
»Wer sonst entscheidet das?«
»Der Wind.«
»Und was sagt er dir?«
»Nichts, solange du nicht nach Innen gegangen bist. Und glaube ja nicht, daß es jedesmal so angenehm sein wird. Ich nehme an, daß du zunächst in Harcel schlüpfen solltest, um dich auf die einfachste Weise an das Verinnerlichen zu gewöhnen. Wenn du aber ein Soll-Sein erkennen willst, mußt du noch viel tiefer in dein anderes Ich einsinken und dich ganz aufgeben.«
»Wie soll ich mich ganz aufgeben und zugleich etwas erkennen?«
»Das mußt du selbst herausfinden. Ich kann dir nur sagen, daß dies die Voraussetzung ist.«
»Und jetzt werde ich in ein neues Inneres gehen?«
»Ja.«
»Ich fürchte mich davor jetzt weniger, Gaudior, aber ich habe immer noch Angst.«
»Das ist schon gut so«, sagte Gaudior.
»Aber wenn ich mich ganz aufgebe, kann ich dann trotzdem mit Meg kythen?«
»Wenn es sein soll, wirst du es können.«
»Ich werde sie brauchen…«
»Wofür?«
»Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich sie brauchen werde.«
Gaudior schnaubte drei durchsichtige Bläschen in die Luft. »Halte dich fest. Ganz fest. Wir müssen in den Wind, und diesmal könnten uns Echthroi begegnen. Sie werden versuchen, dich abzuschütteln und über den Rand der Welt zu schleudern.«
Ich rufe den sanftweißen Schnee überm Land
D as große Einhorn ließ sich in den Wind fallen, und sie flogen zwischen den Sternen dahin, mitgewirbelt im Tanz, einbezogen in die Harmonie. Jede flammende Sonne, die um ihre Achse kreiste, ließ ein Singen hören – so klingt es, wenn man mit der Fingerspitze vorsichtig über den Rand eines Glases reibt —, und von Sonne zu Sonne variierte der Ton. Und freilich klang er nicht wie eine gewöhnliche Glasharfe oder wie herkömmliche Posaunen und Trompeten, sondern war einmalig und unvergleichbar: Musik und Harmonie von so vollkommener Schönheit, daß Charles Wallace beinahe die Mähne des Einhorns losgelassen hätte.
»Nein!« rief Meg. »Halt dich fest, Charles! Nicht nachgeben!«
Ein eiskalter Windstoß fegte schneidend die Schönheit des Fluges davon, und mit der Kälte kam der Gestank von Tod und Verwesung.
Charles Wallace verbarg sein Gesicht in Gaudiors dichter Mähne, um gegen die Übelkeit anzukämpfen. Seine Finger krampften sich in die silberhellen Zotteln, damit ihn der Wind der Echthroi nicht vom Rücken des Einhorns riß. Der Gestank war so abscheulich, daß Charles seinen Griff unweigerlich gelockert hätte, wäre da nicht die Tröstung des warmen Fells gewesen, der seltsame, besänftigende Duft, der Gaudiors schweißnassen Flanken entströmte.
Mit schmerzhafter Anstrengung schlugen die schimmernden Schwingen des Einhorns gegen die unsichtbaren Flügel der Finsternis. Gaudiors qualvolles Wiehern verlor sich im Heulen des Sturmes.
Plötzlich hatte er festen Boden unter den Hufen. Erschrocken stöhnte er auf. »Halte dich mit aller Kraft fest!« warnte er. »Nicht loslassen! Es hat uns in eine Projektion
Weitere Kostenlose Bücher