Durst - Roman
Konflikten und Umwälzungen des Jahrhunderts die Stirn geboten oder doch zwangsläufig die Wangen hingehalten. Die Frau zu seiner Seite, eine über die erste Blüte hinausgekommene Südamerikanerin, trug arg strapazierte Stretch-Jeans, einen tief ausgeschnittenen Body mit Leopardenfellmuster und klimpernde Reifen an den stumpfen Handgelenken. Sie lachte kehlig und fuchtelte in einem fort, als müsse sie sich einen Schwarm Moskitos vom Leib halten. Auch ihr Hintern war ständig in Bewegung, ohne dass dazu ihre Füsse, die in schwarzen Plateauschuhen steckten, ihren Platz verlassen mussten.
Der Umstand, dass niemand im Raum ass und auch Petar das nicht beabsichtigte, war meinem Appetit nicht gerade zuträglich. Aber da ich hungrig war, fiel das nicht weiter ins Gewicht. Ich bestellte eine Pizza nach Iggy’s Art – Tomaten, Schinken, Zwiebeln, Auberginen, Kartoffeln, Oliven und Fetakäse (die Zusammensetzung schien mir originell) – und eine Flasche Bier. Ich weigerte mich, mit Petars Redbullbüchse anzustossen, bot ihm dafür eine Zigarette an. Wir rauchten und folgten der Berichterstattung zum heutigen WM -Spiel auf Sat1. Als das Wort «Brasilien» fiel, begann die Frau zu johlen und machte mit den Armen und dem Hintern Karnevalsbewegungen. Der Südosteuropäer sah indes gelangweilt zum Fenster hinaus.
Während ich ass, verliessen die drei Männer das Lokal. Etwas später, Igor hatte inzwischen meinen Teller abgeräumt, verabschiedete sich auch das ungleiche Paar. Igor setzte sich zu uns an den Tisch und liess sich von mir eine Zigarette anbieten. Er erkundigte sich nach Petars Bruder, mit dem er eine Zeit lang auf dem Bau gearbeitet hatte.
Ich versuchte Igor in ein Gespräch zu verwickeln, zeigte Interesse am Geschäftsgang und zurückhaltende Anteilnahme an seinem Migrationsschicksal. Sein Leben bestände zur Zeit nur aus Arbeit, sagte Igor in leidlichem Deutsch. Er führe das Lokal im Alleingang, müsse ich wissen, sieben Tage die Woche. Da bleibe kaum noch Zeit für ein Privatleben, eine Freundin oder gar eine Familie. Dem befürchteten Eindruck, er möchte sich beklagen, beugte er mit einem Lächeln vor und meinte, seine Kundschaft sei ja seine Familie.
Nach seiner Herkunft befragt, erzählte er, er sei in einem kleinen Dorf in der Nähe von Zenica, Zentralbosnien, aufgewachsen. Seine Eltern führten eine multiethnische Ehe, wie sie so charakteristisch für das alte Jugoslawien, insbesondere Bosnien, gewesen sei. Man habe dort gut gelebt, vor dem Krieg, aber die Arbeitslosigkeit sei hoch gewesen. Viele der jungen Leute hätten ihr Glück im Ausland versucht, in Amerika, Kanada, Aus tralien, Italien, Deutschland und eben in der Schweiz. Ein Onkel von ihm habe übrigens schon vor dreissig Jahren hier gearbeitet – bei den Stahlwerken in Emmenbrücke.
Nach einer kurzen Pause meinte Igor: Er könne die Schweizer schon ein wenig verstehen, dass sie mit den «Jugos» Mühe hätten. Es gebe unter ihnen tatsächlich einige, die sich nicht anpassen wollten. Er selbst komme mit allen zurecht. In seinem Freundeskreis gebe es Serben, Kroaten, Albaner, Türken, Portugiesen, Italiener und natürlich auch Schweizer. Er habe mit ihnen auf dem Bau gearbeitet und nie ein Problem gehabt. Wenn einer ehrlich sei und arbeiten wolle, habe er es gut in der Schweiz.
«Als ich in Ausland ging, haben mich Vater gesagt, ich solle immer ehrlich bleiben … Falls er heren, dass ich krumme Sachen machen, wolle er nicht mehr mein Vater sein.»
Igors Gesicht hatte bei diesen Worten einen gerührten Ausdruck angenommen.
Ich sah mich genötigt, seinem Lobgesang auf die Chancengleichheit etwas entgegenzuhalten: «Anpassen, arbeiten und ehrlich sein, schön und gut. Das ist der Wunsch der meisten Menschen. Aber gerade du solltest doch wissen, dass es nicht immer so einfach ist.»
Als ob er sich erst jetzt getraute, begann Igor von den Schwierigkeiten zu erzählen. Eine Nachbarin habe ihn jahrelang nicht gegrüsst, bis er ihr eines Tages in schmutzigen Arbeitskleidern begegnet sei und sie realisiert habe, dass er arbeite. Ganze drei Jahre habe es gedauert, obwohl sie sich wöchentlich im Treppenhaus begegnet waren. Die Schweizer seien halt schon ein wenig distanzierte Leute, und es brauche lange, bis man ihr Vertrauen gewonnen habe.
Igor hielt die Zigarette über den Aschenbecher und schien unschlüssig, ob er weitersprechen soll. Endlich streifte er die Asche ab und meinte, man sähe das auch an der Art und Weise, wie hier
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