Durst - Roman
bemerkte.
«Suppenteller hats im mittleren Kästchen …»
Ohne ihre Reaktion abzuwarten, wandte ich mich wieder dem Ordnerinhalt zu. Nach einer Weile stand sie auf und sorgte mit Schubladen, Schranktüren, Besteck und Geschirr für eine anhaltende Geräuschkulisse.
Kaum war es mir gelungen, mich wieder auf meinen Gegenstand zu konzentrieren, trat Petar auf den Plan. Er blieb in der Tür stehen und streckte sich genüsslich. Dazu gab er löwenartige Laute von sich. Er trug einen dunkelblauen Bademantel, der den Blick auf seine glatte Brust freigab.
«Guten Morgen allerseits!», trällerte er gutgelaunt. Er klopfte mir im Vorübergehen auf die Schulter und begrüsste Anita, die mit dem Rücken zum Raum an der Küchenablage stand, indem er sie an der Taille umfasste und ihr einen Kuss auf den Hals drückte.
Sie empfing es regungslos.
«Hey Mann, was für geiles Wetter!», verkündete er und wies zum Fenster über der Küchenablage. «Genau richtig, um gemütlich draussen abzuhängen.»
Ich räusperte mich: «Dass du dich da nicht irrst: Wir haben heute ein volles Programm!»
Er drehte sich lächelnd um.
«Im Ernst! Wir müssen einige Leute befragen. Dazu bin ich auf deine Dolmetscherhilfe angewiesen …»
«Gut. Aber zuerst muss ich frühstücken. Ich hab krass Hunger!»
Er liess die Rechte vor seinem Bauch kreisen.
«Lass dir nur Zeit.» Ich stand auf. «Treffen wir uns in einer Stunde in der Zentrale.»
«Jetzt haben wir?»
«Zehn Uhr.»
«Okay – um elf in der Zentrale. Voll easy.»
Er klatschte mit seinen nackten Füssen zum Badezimmer. Ich klemmte den Ordner unter den Arm und wollte gerade gehen, als Anita, die bis dahin reglos dagestanden hatte, sich mir zuwandte.
«Was hast du vor?»
«Erzähl ich dir später.»
Sie stemmte die Arme in die Seite. «Ich hab gedacht, wir seien Partner!»
«Ein Team. Wir sind ein Team. Wenn du möchtest, kannst du dir – während ich mit Petar unterwegs bin – die Zeit damit vertreiben, Slavkovi ć s Buchhaltung zu studieren. Sie liegt in der Bananenschachtel, drüben in der Zentrale.»
Ich nickte ihr zum Abschied aufmunternd zu.
Petar stellte den Wagen in der Lädelistrasse ab. Seit ich wusste, dass ich beschattet wurde, begann ich dieser Art von Fortbewegung gewisse Vorzüge abzugewinnen. Wir stiegen aus und gelangten zwischen zwei Häusern hindurch zur Baselstrasse.
Ich hatte Petar die Kassenbücher gezeigt, um herauszufinden, ob ihm allenfalls einige Kunden bekannt waren. Von jenen Personen, die er kannte und die ihr Geld seiner Ansicht nach auf rechtmässige Weise verdienten, fertigte ich eine detaillierte Liste mit den überwiesenen Beträgen an. Nachdem wir in Emmenbrücke keine der Personen zu Hause angetroffen hatten, schlug Petar vor, Igor einen Besuch abzustatten. Igor führte eine kleine Pizzeria gleich neben einer Kebabbude und einem thailändischen Lebensmittelladen. Im oberen Drittel des Schaufensters prangte in gelben Lettern der Schriftzug «Iggy’s». Wir betraten das Lokal durch die Glastür.
Der längliche Raum machte einen kalten Eindruck. Die weissen Wände, der glasige Kunststeinboden, die glatten Tische aus Marmorimitat entfalteten ungefähr den Charme einer Umkleidekabine des FC Emmenbrücke. Ein halbes Dutzend Augenpaare musterte uns. Igor, ein jungenhaft wirkender Mittdreissiger, stand hinter der Theke und lächelte, als Petar mit ausgestreckter Hand auf ihn zuging. Petar stellte mich als guten Kollegen vor, ich nickte freundlich und drückte Igors Hand.
Nachdem das erledigt war, setzten wir uns an einen kleinen Tisch. Ich nahm – mit dem Rücken zum Schaufenster – auf der Bank Platz, Petar setzte sich mir gegenüber. Zu meiner Linken sassen drei Männer an einem Tisch und nahmen ihr Gespräch wieder auf, nachdem sie es offensichtlich infolge unseres Eintritts unterbrochen hatten. Rechts von mir, unter dem Fernseher, stand an einem Bartisch ein Paar, das sogleich meine Aufmerksamkeit erregte. Der Mann wirkte schläfrig, vielleicht auch melancholisch, seine Gesten waren schwerfällig und schienen ihn übermässig anzustrengen; und ich war versucht, die Kraft zu bewundern, die er für seine Bewegungen aufbringen musste. Er war nicht etwa übergewichtig, nicht einmal besonders gross oder besonders breit, sein Körper schien einfach stärker unter der Erdanziehung zu leiden als gewöhnliche menschliche Körper. Sein Gesicht, eine augenfällig südosteuropäische Physiognomie, war vom Schicksal gezeichnet, als hätte es allen
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