Durst - Roman
Tönen.
«Was ist das für ein Lied?», fragte ich missmutig.
Er zuckte mit den Achseln. «Einfach etwas, wo mir in den Sinn gekommen ist.»
Ich versuchte den sonnengebleichten Himmel zwischen Autodach und dem hohen Bahndamm ausfindig zu machen. Als ich ihn erspähte, war mein Interesse an ihm bereits wieder erloschen. Mein Blick rutschte von der Kühlerhaube auf die Strasse.
Ich dachte daran, wie Faruk Petar behandelt hatte, als ich zum ersten Mal in der Zentrale gewesen war. Hatte ich damals sein Verhalten als unnötig grob und verletzend empfunden, so leuchtete es mir nun vollkommen ein. Ich steckte mir eine Zigarette an und machte etwas Dunst im gleissenden Sommerlicht.
Wir stiegen zum zweiten Mal das kühle, faulig riechende Treppenhaus an der Seetalstrasse hinauf. Bevor ich den Klingelknopf drückte, versetzte ich in ruhigem Ton: «Von nun an hältst du den Mund, sobald wir auf die Sache zu sprechen kommen. Du verstehst schon. Du tust nichts anderes, als meine Worte übersetzen.» Ich klingelte und gab damit zu verstehen, dass ich an einer Diskussion nicht interessiert war.
Diesmal hatten wir Glück. Herr Ismailovi ć war zu Hause. Er freute sich, Petar zu sehen, und bat uns herein.
Sie begannen sich auf Serbokroatisch zu unterhalten. Petar stellte mich gelegentlich vor und liess mich wissen, einer seiner Onkeln habe Ismailovi ć im Militärdienst kennengelernt. Der Mann tischte uns Rakija auf und verwickelte Petar in ein lebhaftes Gespräch. Zwischendurch streifte mich immer mal wieder ein Blick aus seinen flinken, von Lachfältchen geschweiften Augen.
In eine Pause hinein sagte ich zu Petar: «Erzähl ihm, ich sei von Beruf Steuerberater, und du hättest mich gebeten, einigen Bekannten zu helfen. Dabei hättest du auch an ihn gedacht.» Weil ich nicht wusste, wie gut Herr Ismailovi ć Schweizerdeutsch verstand, versuchte ich zu nuscheln und setzte deutlicher hinzu: «Wirklich guter Schnaps. Selbst gebrannt?»
Petar übersetzte, und Ismailovi ć s Augen begannen zu leuchten, während er von seinem in Bosnien lebenden Bruder und der Schnapsbrennerei erzählte. Auf ganz ähnliche Weise liess sich auch das Zutrauen eines alten Bauern aus dem Entlebuch gewinnen.
Nach einer Weile forderte ich Petar auf, Ismailovi ć die Absicht unseres Besuches zu verraten. «Sag ihm, wir wüssten, dass sich viele Ausländer mit der hiesigen Steuerpraxis schwertun und oftmals mehr versteuerten, als sie eigentlich müssten. So wüssten beispielsweise viele nicht, dass sie die Beträge, die sie ihren Familien in der Heimat zukommen lassen, von den Steuern absetzen können.»
Ich hatte keine Ahnung, ob dem so war. Aber es klang gut und tat seine Wirkung: Ismailovi ć zeigte uns die Quittungen der Transaktionen, die er in den letzten fünf Monaten bei Slavkovi ć vorgenommen hatte. Ich ermahnte ihn, die Belege aufzuheben, und versprach, ihm bei der nächsten Steuererklärung behilflich zu sein.
Wieder in Petars Wagen, verglich ich die Beträge auf Ismailovi ć s Quittungen mit denen in der Buchhaltung. In den Monaten April und Februar fanden sich darin deutlich höhere Beträge, als Ismailovi ć in Wahrheit überwiesen hatte.
Der Trick mit dem Steuerabzug verfing auch bei den anderen Bekannten von Petar. Mit wenigen Ausnahmen gaben sie uns bereitwillig Auskunft. Dabei stellte sich heraus, dass die Belege in Slavkovi ć s Buchhaltung beinahe in jedem zweiten Fall gefälscht waren, indem sie entweder höhere Beträge aufwiesen als tatsächlich eingezahlt oder dann gänzlich fingiert waren.
Während dieser Gespräche verlor ich allmählich das Interesse. Ich begann mein Vorgehen in Zweifel zu ziehen. Ich wurde nicht bezahlt, um herauszufinden, ob und wie Slavkovi ć Geld gewaschen hatte. Dass ich auf diese Weise dem Mörder auf die Spur kam, schien mir immer unwahrscheinlicher.
Es ging mir einfach alles zu langsam. Im Grunde genommen wusste ich so wenig wie zu Beginn. Mir war es nicht wirklich gelungen, den Kreis, in dem ich den Mörder zu suchen hatte, enger zu ziehen. Solange ich das Motiv des Mörders nicht kannte, konnte sich der Verdacht gegen jede beliebige Person richten. Die Spur konnte irgendwohin führen – in das zerfallende Jugoslawien, in den Krieg; und ich mühte mich hier mit kleinlichen Buchhaltungstricks ab. Ich hielt den Kopf aus dem fahrenden Wagen, um mir Abkühlung zu verschaffen.
Wir besorgten uns beim Metzger am Sonnenplatz Würste zum Grillieren und im «Thomy’s» nebenan ausreichend Bier. Die
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