Durst - Roman
als Verbindungsstück dienen, das ich bisher nur deshalb nicht vermisst hatte, weil ich annahm, alle Puzzleteile zusammengefügt zu haben. Um meine Gedanken daran zu hindern, voreilige Rückschlüsse zu ziehen, unterbrach ich den Prozess und las noch einmal den Brief durch, diesmal laut und in aller Ruhe: «Wenn zwei das Gleiche wollen, kommt zuweilen der eine dem andern zuvor. Der Killer wollte morden für eine Prämie – der Mörder jedoch tötete um der Gerechtigkeit willen. Wahrlich, Bosnien ist das Land des Hasses.»
Ich litt wie immer, wenn ich für die Dauer einer Lesung der Wahrnehmung fremder Menschen schutzlos ausgesetzt war. Bereits nach den ersten Sätzen kam meine Speichelbildung nicht mehr nach, als wären die Worte lauter trockene Kuchenstücke. Erfahrungsgemäss legte sich das Unbehagen in den ersten Minuten, wenn ich spürte, dass mir grundsätzlich Wohlwollen entgegengebracht wurde.
Diesmal aber lag etwas Feindliches im Raum. Ich las und verstand die Worte nicht, die scheinbar ohne mein Zutun von meinen Lippen gingen. Sie fanden keine Resonanz, erregten keinen Anstoss – und gleichwohl ging es unaufhaltsam weiter. Wenn es mir zuweilen doch gelang, die Bedeutung dieser Sätze zu begreifen, kam mir alles so lebensfern vor, papieren mit etwas Druckerschwärze dran; besonders die Figuren: blasse, blutleere Gestalten, nie wirklich geboren und bereits schon tot. So tot, wie Silvan jetzt war. Jedem hier Anwesenden musste das klar sein. Aber mein Mund sprach weiter, formte Worte, schloss Sätze und setzte zu den folgenden an, während meine Gedanken den Raum verliessen.
Silvan, wie er in gebückter Haltung auf der Kanalmauer ging, sein Grinsen, seine nasale Stimme, seine Ironie und sein ewiges Gefühl der Minderwertigkeit. Er hatte sich danach gesehnt, irgendwo auf dem Land ein einfaches Leben zu führen, von einer Frau geträumt, die nicht an seine Mutter erinnern, aber diese ersetzen durfte, von gemeinsamen Kindern, von Tieren und der Arbeit in Wind und Wetter. Ich konnte mich nicht erinnern, wann er aufgehört hatte zu träumen, ja ob er überhaupt damit aufgehört hatte. Was war zuerst gewesen, die Sucht oder die Resignation? Was wusste ich überhaupt von Silvan? Wirklich viel war es nicht. Es hätte auf zwei Schreibmaschinenblättern Platz gefunden. Ebenso gut hätte ich mir eine solche Figur auch ausdenken können. Ich war überzeugt, sie wäre dabei vitaler geraten, als es Silvan im Leben je war.
Ich bemerkte eine Unruhe im Publikum. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete ich die Zeigefinger, die vom Kinn zur Nase, von den Schläfen zu den Lippen fuhren, sah die übereinandergeschlagenen Beine, die von einem Schenkel zum anderen wechselten. Mit knapper Not kam ich ans Ende, legte das Buch zur Seite und trank mein Wasser zum artigen Applaus.
Nach der Lesung suchte ich die nächstgelegene Bar auf. Sie entsprach wohl dem, was zurzeit als «trendy» empfunden wurde. Viel Glas, Chrom und schwarzes Kunstleder, indirekte Beleuchtung und lateinamerikanische Folklore aus den winzigen Lautsprecherböxchen, die über den ganzen Raum verteilt waren. Die Gäste wirkten modisch und alternativ zugleich, trugen mehrheitlich dunkle, gut geschnittene Kleider und absichtlich zerzauste Haare. Ich stützte mich auf die Theke, mein rechter Fuss trat, in Erwartung der Fussleiste, ins Leere.
Ich nahm mein Bier in Empfang und dachte über die Drohbriefe nach. Ich hatte sie zu Hause noch einmal durchgelesen und mit dem Schreiben verglichen, das mir Frau Slavkovi ć zugestellt hatte. Wenn ich den Inhalt der drei Sätze richtig interpretierte, so wollte uns der Verfasser weismachen, nicht der von Brechbühl und seinen Komplizen beauftragte Killer, sondern jemand anders habe Slavkovi ć umgebracht. Der Killer hätte demnach seine Prämie kassiert, ohne einen Finger gerührt zu haben; was er seinen Auftraggebern ja nicht unbedingt unter die Nase binden wollte. So absurd mir die Vorstellung auch erschien – zwei Menschen wollen zur gleichen Zeit denselben Mann töten –, sie hätte doch eine Frage beantwortet, die mich seit Brechbühls Geständnis beschäftigt hatte: Weshalb kündigt ein Berufskiller seine Tat im Voraus an? Zu welchem Zweck? Er gefährdet doch damit seine Mission. Slavkovi ć könnte beispielsweise die Polizei einschalten – oder, wie er es getan hatte, einen Privatdetektiv engagieren.
Bei einer Person hingegen, die aus persönlichen Gründen, aus Hass oder Gerechtigkeitsliebe morden will, leuchtete
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