Durst - Roman
Anrufbeantworter gesprochen: «Hier Silvan. Bist nie zu Hause. Könntest dich ruhig wieder mal melden … Hmkm … Hast du eine Ahnung, wo Faruk steckt? Ich sitze seit Tagen auf dem Trockenen. Zum Marokkaner will ich nicht, der hat so was, so was Geschäftsmässiges an sich … Man gewöhnt sich irgendwie an seinen Lieferanten, weisst du. Und Faruk hat mich nie übers Ohr gehauen, das würde er nicht tun. Hmkmkm … Also meld dich mal. Tschüss.»
Danach hatte er mich noch zweimal angerufen. Das eine Mal war ich zu Hause. Er wollte sich mit mir verabreden, «alte Zeiten aufleben lassen und so», aber ich hatte gerade keine Lust und sagte unter einem Vorwand ab.
Als er das nächste Mal von sich hören liess, tat er das nicht mehr als Lebender. Eine ehemalige Mitschülerin informierte mich – sie hatte die Todesanzeige gelesen. Es hiess, er sei an einer Überdosis Kokain gestorben – Atemstillstand, Hirnblutungen. Vermutlich waren zusätzlich Alkohol und Pillen im Spiel gewesen. Die Polizei sprach von übermässig gestrecktem Stoff, der die Konsumenten dazu verleite, stärker zu dosieren.
Ich schrieb seiner Mutter einen Brief. Ein paar Mal sprach ich auch am Telefon mit ihr. Sie konnte einem leid tun. Ich hatte den Eindruck, ihr Mann lasse sie mit ihrem Schmerz allein. Wenn es nach ihm gegangen wäre, so erzählte sie mir Monate später, wäre Silvan im Geheimen beigesetzt worden. Aber für einmal hatte sie sich gegen seinen Willen durchzusetzen vermocht: Silvan wurde in einem berührenden Gottesdienst in der Gerliswilerkirche verabschiedet. Danach habe er ihn jedoch nie mehr erwähnt, und sie halte es für besser, in seiner Gegenwart nicht von ihm zu sprechen.
Den August und die ersten Septemberwochen verbrachte ich in Erwartung des Herbstes, dessen Melancholie und die mit ihm einhergehende Abkühlung ich herbeisehnte. Ich war der leicht bekleideten Menschen überdrüssig, die sich wie lästiges Ungeziefer überall breitmachten – als ob das Leben eine anhaltende Freilichtparty wäre. Ein, zwei Mal ging ich mich mit Adnan betrinken. Aber es machte weit weniger Spass, statt in einer verrauchten, spärlich beleuchteten Gaststube, die wie ein zielloses Schiff ganze Winternächte fern der Alltagswirklichkeit dahinschaukeln konnte, auf Plastikstühlen an Plastiktischen unter farbigen Glühbirnen zu sitzen, um dann beim Heimgehen vom Gesang der Vögel verhöhnt zu werden.
In diesen Tagen entnahm ich einer Randnotiz der « NLZ », dass die Schweizer Demokraten rund tausendsechshundert gültige Unterschriften für ihre Volksinitiative «Einbürgerung vors Volk» zusammengetragen hatten. Ich fragte mich nur, wie die fünfzehntausend Stimmberechtigten dereinst über die Einbürgerungsgesuche befinden sollten. Musste in Zukunft ein Anwärter auf den Schweizer Pass bei jedem einzelnen Stimmberechtigten vorbeigehen, um sich vorzustellen, oder würden zu diesem Zweck seine Personalien in die Haushaltungen verschickt?
Mitte September begann es zu regnen. Innerhalb weniger Tage fiel das Termometer unter zwanzig Grad. Die Leute schienen zur Besinnung zu kommen – sie schimpften über das Wetter und trauerten den schönen Tagen nach, und man konnte wieder ganz vernünftig mit ihnen verkehren.
Ich war mit der Vorbereitung einer Lesung aus meinem letzten Roman «Inselflucht» in einer Zürcher Buchhandlung beschäftigt, als ein Brief mit dem Absender von Frau Slavkovi ć eintraf. In wenigen handgeschriebenen Zeilen teilte sie mir mit, sie habe vor einigen Tagen einen mysteriösen Brief erhalten. Sie wisse nicht, was sie davon halten soll, vielleicht könne ich damit etwas anfangen.
Sie hatte den Brief beigelegt. Er war mit einer alten Schreibmaschine adressiert – der Halbkreis des kleinen Buchstabens e und das Rund des o waren ausgefüllt, das s sprang aus der Linie –, ein Absender fehlte. Den Brief hatte Frau Slavkovi ć «sinngemäss» übersetzt, und nach dem dritten Durchlesen – ich stand am Küchentisch und hatte mir eine Zigarette angesteckt – glaubte ich, den Inhalt der rätselhaften Zeilen so weit erfasst zu haben. Meine Hand mit der Zigarette zitterte, und ich bemerkte, dass das Zittern auch vom Rest meines Körpers Besitz ergriff. Ich setzte mich hin, spannte die Muskeln und rauchte so meine Zigarette zu Ende. Allmählich beruhigte ich mich. Ich registrierte, dass mein Gehirn die eingespeiste Information zu verarbeiten, sie in Zusammenhang mit dem bisherigen Wissen zu bringen versuchte. Irgendwo würde sie
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