Durst - Roman
hat», führte sie aus. «Es dürstete ihn fortwährend nach Anerkennung, nach Zuneigung. Um diese menschliche Wärme zu erhalten, war er bereit, sehr weit zu gehen. Gleichzeitig wollte er sich vor Verletzungen schützen; er fürchtete, jemand könnte seinen weichen Kern entdecken. Selbst mir hat er sich immer wieder verschlossen.»
Wir waren bei einem Pferdegehege stehen geblieben. Die fuchsroten Tiere rupften an Grasbüscheln und nahmen keine Notiz von uns. Dorothea sagte: «Guido wollte sich ändern. Du wirst es nicht glauben: Er hat zu lesen begonnen …»
Erneut traten ihr Tränen in die Augen. Ich legte meinen Arm um sie. Nach einer Weile liess ich ihn sinken, und etwas später fuhr Dorothea fort: «Eines Nachmittags sass ich auf der Terrasse und war in meine Lektüre vertieft, als ich bemerkte, dass mich Guido die ganze Zeit anstarrte. Ich spürte, er hatte was auf dem Herzen. Er wollte lange nicht damit herausrücken – es war ihm peinlich! Ich dachte weiss Gott, um was es sich handeln könnte, bis er sich endlich einen Ruck gab: Er bat mich, ihm ein Buch zu empfehlen. Aber nicht so ein Kompliziertes, das er schon nach den ersten Seiten wieder weglege. Es müsse was Spannendes sein, das ihn schon vom ersten Satz an packe.»
Ein Lächeln hellte ihr Gesicht auf, während ihr Blick über die Pferdeweide wanderte.
«Du kannst dich vielleicht erinnern; er hat dir bestimmt von seiner Segelschifffahrt in der Karibik erzählt.»
Ich nickte.
«Das war eine Lüge. In Wirklichkeit war er zu Hause und hat Bücher gelesen. Aus irgendeinem Grund glaubte er, er müsse sich dafür schämen. Deshalb diese Geschichte mit der Segelfahrt. Er hat sich im Keller ein Solarium eingerichtet und während dreier Wochen das Haus und den Garten nicht verlassen. Ich hab ihm Bukowsky, Murakami und ‹The Catcher In The Rye› zu lesen gegeben – Letzteres natürlich in der deutschen Übertragung. Dann setzte ich ihm Kaminski, Kundera, Frisch und Werner vor. Aber am besten hat ihm Hesse gefallen; ‹Steppenwolf› hat er, kaum zu Ende gelesen, sogleich wieder von vorn begonnen. Nicht wahr, du kannst es kaum glauben? Im übrigen ist er zur Zeit an deinem ‹Niemandsland› – ich hab es ihm in die Zelle gebracht … Ich glaube, er mag es.»
Um die Finanzen des Verlags stand es freilich nicht zum Besten. Nun, da die Subventionen nicht mehr flossen, begann das Geld an allen Ecken und Enden zu fehlen. Dorothea plante schweren Herzens den Verkauf an einen grösseren Verlag. Aber im letzten Moment platzte die Übernahme, und acht Monate später musste Dorothea den Verlag liquidieren.
So gingen wir alle wieder unsere eigenen Wege. Anita, nun eine gefeierte und nachträglich ausgezeichnete Recherche-Journalistin, ging ihrer Arbeit beim «Journal» in Zürich nach. Sie erklärte, sie wolle unbedingt mit mir in Kontakt bleiben. Ich müsse ihr einen Besuch abstatten, sollte ich mal aus Emmenbrücke herauskommen.
Petar wandte sich wieder seinen Aufträgen zu. Wir begegneten uns ab und zu beim Kebabstand; ein, zwei Mal schaute ich auf einem Spaziergang bei ihm herein.
Faruk kehrte drei Monate später in den Kosovo zurück. Ich glaube nicht, dass er sich der UÇK anschliessen wollte. Er war eher auf Rugovas Linie, dessen Vorlesungen er als junger Student am Institut für Albanologie in Prishtina belegt hatte. Wie Rugova, der in westlichen Medien romantisierend als «Gandhi des Balkans» bezeichnet wurde, plädierte er – im Wissen um die Übermacht der serbischen Streitkräfte – für Gewaltlosigkeit auf dem Weg in die Unabhängigkeit. Ich vermute, Faruk wollte einfach bei seiner Familie sein – jetzt, da der Krieg vor der Tür stand. Später hab ich erfahren, dass er bei einem Nato-Angriff, der mehreren Dutzend Zivilisten das Leben gekostet hatte, schwer verletzt worden war.
Und ich? Nun ja, ich stellte mich auf die mühselige Suche nach einem neuen Verleger ein. Anita hatte mir zwar angeboten, den Krimi im hauseigenen Verlag zu veröffentlichen – quasi das Buch zur Reportage. So begann ich auch Anfang August mit der Niederschrift. Aber das Ganze wollte mir nicht so recht einleuchten. Eine erlebte Geschichte nachzuerzählen, brächte mir keine Überraschungen mehr. Und nachdem sie verkürzt im «Journal» bereits erschienen war, würde die Auflösung meines Krimis dem Leser ja schon bekannt sein. Ausserdem erreichte mich in diesen Tagen die Nachricht von Silvans Tod.
Silvan hatte mir in der Zeit, da ich untergetaucht war, auf den
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