Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)
zufallen. Die Welt ist ausgeschlossen. Wir sind eingeschlossen. Jetzt sind da nur noch sie und ich und die Wahrheit über das, was in mir ist. Ich kann nicht mehr ausweichen. Kann mich nicht verstecken. Was es auch ist, jetzt werd ich’s erfahren. Ihm in die Augen sehen. Wie Pa mir gesagt hat.
Gib der Angst nicht nach. Sei stark, ich weiß ja, dass du stark bist. Und gib niemals auf, hörst du? Niemals.
Es ist dunkel im Zelt. Schwärze. Augen auf, Augen zu, es ist egal. Ich kann nichts sehen. Kann nur hören.
Ich hör, wie ein Schöpflöffel eingetaucht wird. Wasser spritzt auf heißen Stein. Das wütende Zischen von Dampf. Dann Hitze. Glühende Hitze in Wellen, die sich um mich zusammenziehen. Mich ersticken. Ich bin im Nu nass geschwitzt. Obwohl ich nur meine Untersachen anhab.
Auriel fängt an zu singen. Einen Sprechgesang. Keine Worte, die ich je gehört hab. Tief in der Kehle, dann hoch und klagend wie der Wind. Sie trommelt auf ihrem Lederkästchen. Die Bänder an ihren Handgelenken rasseln. Es hallt in meinen Ohren wider, in meinem Kopf, in meinem Körper.
Mehr Dampf. Meine Nase, meine Ohren, mein Mund, meine Lunge. Alles voller Dampf und Hitze. Schweiß tropft von mir runter. Kein Platz zum Aufstehen. Kein Platz, um mich zu bewegen. Ich bin gefangen. In der Hitze und den Geräuschen und der Dunkelheit bin ich gefangen. Mein Herz flattert wie ein verängstigter Vogel.
Aber ich werd nicht davonlaufen. Nein.
Auriel hält mir einen Schöpflöffel Wasser an die Lippen. Ich trink ihn aus. Dann kippt sie mir Wasser über den Kopf. Drückt mir eine kleine Tasse in die Hände. »Trink«, sagt sie. »Alles. Dann leg dich hin.«
Ich zöger. Aber nur kurz. Dann leg ich den Kopf in den Nacken und trink alles auf einmal aus. Der Geschmack von Rinde auf meiner Zunge. Wie Tee. Erde. Wasser. Luft. Ich leg mich auf den Boden.
»Öffne dich der Pflanze«, sagt sie, »wehr dich nicht. Lass dich von ihr führen, wohin sie will. Lern, was du lernen musst. Nimm von ihr an, was du brauchst.«
Sie singt. Sie schlägt einen Rhythmus. Die Rasselbänder machen ein Geräusch wie Grillen. Hunderte von Grillen. Geräusche und Hitze und Dampf erfüllen das Zelt. Dringen in mich ein, durch mich durch, immer weiter. Bis meine Ränder anfangen sich aufzulösen. Bis ich jedes Zeitgefühl verlier.
»Das Licht ist überall um dich«, sagt Auriel. »Lass los, du bist sicher und kannst loslassen.«
Ich lass mich in die Hitze und die Pflanze und die Geräusche fallen. Ich verlass meinen Körper, so schwer, so erdgebunden. Und ach … der Schmerz ist zu viel. Der Schmerz und der Verlust, die Ungerechtigkeit, die Angst, die Traurigkeit. Zu … zu viel, um es zu ertragen. Nicht bloß ich. Wir alle. Die Lebenden und die Toten und die, die noch geboren werden. Die dunkelsten Tiefen winken mich runter zu sich. Jemand wimmert. Ich.
Ihre Stimme in meinen Ohren, in meinem Kopf. Auriel flüstert: »Im Schmerz liegt Weisheit. Spür es. Gib dich dem hin. Ich versprech dir, es wird dich nicht zerstören.«
Es schließt sich über mir. Füllt meine Lunge. Das schwarze Wasser des Schmerzes. Innen wie außen. Neben mir, hinter mir und um mich rum. Ich schrei auf vor Schmerz. Ich atme ihn ein. Immer und immer wieder. Meine Mutter, mein Vater, meine Schwester, mein Bruder. Helen und Tommo und Ike. Menschen, die ich kenn. Menschen, die ich nicht kenn.
Ich wein um die Lebenden. Ich wein um die Toten. Ich wein um die, die noch geboren werden. Und Epona. Ich wein um Epona. Um ihr so kurzes Leben. So früh vorbei.
»Deine Freundin«, sagt Auriel. »Ihr Tod ist schnell und stolz gewesen. Deine Hände auf deiner Armbrust sind gnädig gewesen. Jetzt bittet sie dich, sie freizulassen. Dich selbst freizulassen. Lass die Toten los. Lass all die Toten los.«
Meine Beine fangen an zu zittern. Meine Arme zucken und tanzen. Mir ist heiß, fiebrig. Eiskalt. Dünne Säure steigt mir in die Kehle.
Auriel hebt meinen Kopf an. Hält mir ein Gefäß vor den Mund. Mir wird übel. Plötzlich und heftig.
Sie gibt mir Wasser zu trinken. Als sie meinen Kopf wieder hinlegt, weichen die Sterne zurück, und ich bin an einem stillen, grauen Ort. Auf einer weiten flachen Ebene am Rand der Welt. Es ist die Landschaft aus meinem Traum.
D
a ist ein Himmel, der sich verdunkelt. Der Wind weht stark. Der alte Mann steht am verkrüppelten Baum.
Auriels Stimme. In meinem Kopf. »Frag den Schmerz, was er von dir will.«
Er hält einen Bogen in Händen. Er ist weiß, wie der
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