Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)
Schuld«, sagt er. »Aber ein Mann kann sich gegen so viele nicht wehren. Danach hat sie nicht mehr schlafen können aus Sorge um Nell, und unsere Kleine, unsere Rosie, hat sie nicht von ihrer Seite gelassen.«
Als wir zu seinem behelfsmäßigen Unterschlupf kommen, ertönt drinnen ein verzweifelter Schrei. Der Mann schlüpft rein, Auriel hinterher. Ich sag Tracker, er soll draußen bleiben. Als ich reingeh, seh ich aus dem Augenwinkel was Dunkles vorbeistürmen. Hör Splitter von Gelächter. Mir bricht kalter Schweiß aus.
»Geht weg«, sag ich.
Das Zelt ist gerade so hoch, dass ich aufrecht stehen kann. Es ist ziemlich dunkel drinnen, gibt nur das Licht, was durch den Eingang kommt. An der hinteren Wand sitzt eine Frau auf einem Stuhl. Sie wiegt das kleine Mädchen, Rosie, auf dem Schoß. Drückt es fest an ihre Brust. Sie schaukelt vor und zurück und klagt. Es ist ein rohes, tierisches, unerträgliches Geräusch. Drei andere Frauen stehen besorgt um sie rum.
»Das Fieber hat sie vor zwei Tagen geholt«, sagt der Mann, »aber Ruth will sie nicht hergeben, damit wir sie verbrennen können. Das Fieber, Herrin. Es ist nicht sicher, es ist nicht richtig, dass die Toten unter den Lebenden bleiben.«
Auriel nimmt ihren Augenschutz ab und geht zu Ruth. Ihre kühle Stimme plätschert und murmelt. Ruth schüttelt den Kopf, drückt ihr totes Kind noch fester an sich. »Nein, nein, nein, nein«, jammert sie. Die Frauen und Auriel versuchen, ihren Griff zu lösen. Noch ein verzweifelter Schrei. Der Mann guckt hilflos zu mir. »Würdest du es versuchen?«, fragt er.
»Ich?«
»Bitte«, sagt er.
Meine Füße tragen mich zu Ruth. Ich knie mich neben sie, während sie vor und zurück schaukelt. Zuerst sag ich nichts. Dann:
»Meine Schwester heißt Emmi. Sie ist zehn, genau wie Nell. Früher hab ich gedacht, sie wär zu nichts zu gebrauchen. Zu jung, um für sich zu stehen und zu zählen. Hat sich rausgestellt, sie ist eine echte Kämpferin. Das hätte ich nie gedacht, aber so ist es. Sie weiß, wie man überlebt. Ich wette, Nell ist genauso.«
Sie sieht mich nicht an, hat das Gesicht in Rosies Haaren vergraben, aber ich merk, dass sie zuhört. »Deshalb weiß ich, was sie jetzt tut«, red ich weiter. »Weil Emmi das auch tun würde. Sie wird aufpassen und nachdenken und … sich was ausdenken, wie sie weglaufen kann. Wie sie zu dir zurückkommt. Und sie gibt nicht auf, bis sie bei dir ist. Deshalb darfst du auch nicht aufgeben. Das schuldest du ihr. Und deinem Mann. Die, die uns brauchen, sind die Lebenden, nicht die Toten. Die haben das alles hinter sich.«
Rosie trägt nur ein kurzes dünnes Hemdchen. Ich zieh mein Hemd aus und deck das Kind damit zu.
»Hier«, sag ich, »sie soll doch anständig aussehen.«
Mein Körper ist schwer. Mein Kopf ist leer. Ich hab mich verausgabt.
»Tut mir leid, dass du sie verloren hast«, sag ich.
Als Auriel und ich gehen wollen, verändert sich die Miene des Mannes. Er stürzt zu seiner Frau, zu Ruth. Sie hat die Arme geöffnet. Während sie anfängt zu weinen, während er sein totes Kind in die Arme nimmt, damit sie es verbrennen können, gehen wir.
D raußen ist die Sonne so hell. Die Farben blenden mich. Die Bäume, das Wasser, der Himmel. Der Lärm. Zu viel.
Hunde bellen. Leute schwatzen. Kochfeuer qualmen und knistern. Unten am Fluss waschen sie Kleider. Kinder rennen und jagen sich. Das Bummbumm der Waschsteine. Das Trampeln von Füßen. Das Brodeln der Kochtöpfe. Hundegejaul. Ein Schnüffeln. Ein Husten. Ein Seufzer.
Die Schatten der Toten kriechen zwischen den Hütten vor. Sie sammeln sich an den Rändern von dem, was ich bin.
Lass uns rein, flüstern sie. Sie umzingeln mich. Bedrängen mich. Immer dichter. Lass uns rein, lass uns rein, lass uns rein, singen sie.
Ich kann sie nicht mehr draußen halten.
Tracker winselt.
»Saba?«, fragt Auriel. »Saba, alles in Ordnung?«
Sie hält meinen Arm, guckt mich an. Aber ich seh nur mich selbst. Mich. Wie ich mich in ihrem dunklen Augenschutz spiegel. Noch eine Saba. Die mich aus dem Dunkeln raus anguckt.
Da kreischt ein Kind. Ganz langsam dreh ich mich um.
Ein Mädchen wippt oben auf einem beladenen Wagen. Ihre Spielkameraden stehen unten. Sie feuern sie an zu springen. Sie schreien, sie versprechen ihr, dass sie sie auffangen. Sie schreit zurück. Gibt an. Ist aufgeregt, weil sie mit anderen Kindern zusammen ist.
»Das ist Emmi«, sagt Auriel. »Das ist viel zu hoch. Emmi! Bleib da!« Sie läuft auf sie
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