Dustlands - Die Entführung
sie.
Mein Magen knurrt. Das Wasser läuft mir im Mund zusammen. Ist schon eine Weile her, dass wir den letzten Hasen gegessen haben. Pinch kommt zurück und rollt den Reifen vor sich her. Er ist außer Atem und nass geschwitzt.
Soll ich dir helfen mit dem da?, frag ich.
I ch helf ihm, das Schiff abzustützen. Dann holt er sein Werkzeug, und wir machen uns dran, das Rad wieder anzubringen. Emmi sitzt ein Stück weg im Schneidersitz auf dem Boden und malt mit einem Stöckchen im Dreck.
Du musst es besser festmachen, sag ich. Lass mich mal sehen, was du da in dem Kasten hast.
Er wirft die Hände in die Luft. Nicht nur barmherzig, sondern auch handwerklich versiert, sagt er.
Ich wühl in einem Glas mit Metallteilen. Er sagt: Ich fürchte, wir Intellektuellen sind nicht sehr praktisch veranlagt, meine Liebe. Ich bin eine beständige Schicksalsprüfung für Miz Pinch, das Kreuz, das sie zu tragen hat. Doch sie tadelt mich nie wegen meiner Schwächen – zumindest nicht so sehr, wie ich es verdiene.
Du redest komisch, sag ich.
Ah! Ich wusste, du hast das Herz auf dem rechten Fleck!, sagt er. Er wischt sich die Hände an einem Halstuch ab, dann steckt er eine in eine tiefe Jackentasche und holt was raus. Er hält es so, als ob es ein Küken oder eine Feder oder das kostbarste Ding auf der Welt wär. Dabei sieht es nicht nach viel aus. Zwei braune Lederstückchen, die um einen Haufen vertrocknete dünne alte Blätter oder so was gewickelt sind.
Das ist ein Buch, sagt er. Er guckt mich an, als ob mich das beeindrucken müsst.
Ach, was?, sag ich.
Er klappt das obere Lederstück zurück. Dann das erste Blatt. Dann das zweite. Die Blätter sind voll mit schwarzem Gekritzel.
Komische Blätter, sag ich. Ich streck die Hand danach aus.
Vorsichtig! Pinch schiebt meine Hand weg. Das ist Papier. Seiten aus Papier. Außerordentlich alt. Fragil. Selten. Ich fand es in einer Metalldose verschlossen.
So ein Gekritzel hab ich schon mal gesehen, sag ich. Auf Müll auf der Müllkippe. Ich spuck auf den Boden. Das ist nichts Besonderes. Scheiß Abwrackertechnokram.
O nein, meine Liebe, das ist guter Abwrackertechnokram. Vortrefflicher sogar! Vom Anbeginn der Zeiten. Dieses Gekritzel, wie du es nennst, das sind Buchstaben. Zusammengefügt ergeben Buchstaben Wörter. Und Wörter erzählen eine Geschichte. Wie diese hier.
Er klappt die Blätter ganz vorsichtig um, als ob er sie nicht durcheinanderbringen will.
Es ist die Geschichte eines großen Königs, sagt er. Er hieß Luis Ix Iieh Fau. Der Sonnenkönig von Frankreich.
Frankreich, sag ich. Ist das hier in der Gegend?
O nein, meine Liebe, sagt er. Das war ein fernes Land, vor langer, langer Zeit. Damals in der Zeit der Abwracker. Der Sonnenkönig ist seit vielen hundert Jahren tot. Hier, so sah er aus.
Er hält mir das Buch hin. Die Linien und das Gekritzel auf dem Blatt rahmen das Bild von einem Mann ein.
Er hat dicke Lockenhaare, bis über die Schultern runter und oben auf dem Kopf hoch aufgetürmt. Dazu Tierfelle, über eine Schulter geworfen, schleifen hinter ihm übern Boden. Ein komisches Hemd mit Rüschenkragen und Rüschenärmeln. Kurze bauschige Hose, dass man seine Beine sieht. Schuhe mit hohen Absätzen. Ein Schwert an der Seite. Gehstock.
Sein Volk hat ihn verehrt, sagt Pinch. Die Menschen hielten ihn für einen Gott.
Tja, ich hab noch nie von dem gehört. In den Schuhen da würd er nicht weit kommen. Woher weißt du das alles?
Es gibt einige Menschen – nur sehr wenige wohlgemerkt –, die immer noch Kenntnis von Wörtern und Büchern haben. Als ich ein kleiner Junge war, sagt er, hatte ich das Glück, einer solchen Frau zu begegnen, und sie hat mich lesen gelehrt.
Dann redest du so komisch, sag ich, mit all diesen komischen Wörtern … wegen dem … Lesen?
Ja, sagt er. Ja, ich denke, das ist richtig.
Ich glaub, dann verzicht ich drauf, sag ich.
Rooster! Rooster Pinch! Wo treibst du dich rum?
Das ist Miz Pinchs schrilles Gekreische.
Hier, mein Engel!, ruft Pinch.
Ich will hoffen, du arbeitest und quasselst nicht rum.
Aber nicht doch, mein Engel! Ganz und gar nicht! Er steckt das Buch wieder in die Tasche.
Wir machen uns ans Reparieren. Aber es ist, als ob er nicht aufhören kann, zu schwatzen, weil er nämlich gleich darauf sagt: Sie scheint mir ein kluges kleines Mädel zu sein, deine Schwester. Ein helles Köpfchen. So etwas sehe ich gleich.
Sie ist eine Nervensäge, sag ich. Hast du Kinder?
Einen Sohn, sagt er. Und gleich danach: Die
Weitere Kostenlose Bücher