Dustlands - Die Entführung
sie: Macht es dir was aus, dass sie dich den Todesengel nennen?
Nein.
Die anderen Frauen haben Angst vor dir. Sie wissen, wenn sie gegen dich kämpfen, ist es ihr Ende.
Dazu sag ich nichts.
Ich heiße Helen, sagt sie.
Ich bin Saba, sag ich.
Saba. Das ist ein schöner Name.
Ich wickel mich in meine Decke und leg mich hin.
Nacht, Saba, sagt sie. Träum was Schönes.
Nacht, Helen, sag ich.
Und ich schlaf ein.
E mmi hat sich was ausgedacht, wie sie zu mir in den Zellentrakt reinkommt. Sie kommt jetzt mit den Wasserträgern. Das sind die schmuddeligen Kinder, die morgens kurz vor der Dämmerung auftauchen. Sie kommen mit ihren Eimern und kippen frisches Wasser in die Tröge, die an den Zellen langlaufen. Wenn Emmi mich besuchen will, schleicht sie sich einfach ganz früh morgens weg, und sie ist wieder zurück an der Arbeit, bevor die Pinchs wach werden.
Von Emmi hör ich auch, was in Hopetown los ist. Sie erklärt mir, wie das Leben in der Stadt läuft und wo alles ist.
Sie ist zäher als früher, das ist mal sicher. Man würd in ihr nicht das Mädchen wiedererkennen, das vor einer Weile vom Silverlake weggegangen ist. Ein paarmal ist sie mit aufgeplatzter Lippe oder einem blauen Fleck am Arm angekommen. Da hab ich vor Wut die Fäuste geballt. Aber meist schafft sie es, Miz Pinch nicht in die Quere zu kommen.
Emmi. Ganz auf sich allein gestellt in so einem Höllenloch. Aber irgendwie schlägt sie sich durch.
Wer hätte das gedacht?
E s ist vier Nächte her, dass Helen zum ersten Mal mit mir geredet hat. Jetzt unterhalten wir uns jede Nacht ein bisschen. Ich bin nicht so gut im Unterhalten, außer mit Lugh. Und seit ich hier bin, bin ich noch mehr aus der Übung gekommen.
Aber ich mag Helen. Sie ist seit langem so ziemlich der einzige normale Mensch, den ich kennengelernt hab. Und sie hat keine Angst vor mir. Sie sagt, sie würd nicht lange genug leben, um im Käfig gegen mich zu kämpfen, also was soll’s, können wir genauso gut Freundinnen sein.
Wir warten immer, bis die anderen Frauen einschlafen und die Wärter zum letzten Mal reingeguckt haben. Danach sitzen sie nämlich draußen, bis im Morgengrauen die Ablösung kommt. Also sind wir sicher, sobald wir hören, wie die Tür zuschlägt und der Riegel vorgeschoben wird.
Dann schlüpf ich aus dem Bett. Meine Fußkette ist so lang, dass ich mich neben sie auf den kalten Boden setzen kann, zwischen uns die Gitterstangen. Die Wärme von ihrem Körper erinnert mich daran, wie Lugh und ich immer Rücken an Rücken gesessen haben und wie ich seinen Herzschlag in meinem Körper gespürt hab. Wie ich seinen Atem gespürt hab.
Heute hat Helen ihren zweiten Kampf verloren. Sie hat es mir nicht selbst gesagt, aber ich hab die anderen reden hören. Wir wissen beide, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt.
Jetzt sagt sie: Erzähl mir, was mit deinem Bruder passiert ist.
Also tu ich das. Ich erzähl ihr, was an dem Tag passiert ist, als die Tonton gekommen sind und Pa getötet und Lugh mitgenommen haben. Es tut so gut, über ihn reden zu können, nachdem er so lange nur in meinem Kopf gewesen ist. Als ich zu der Stelle komm, wo sie fragen, ob Lugh wirklich an Mittwinter geboren ist, merk ich, wie sie erstarrt.
Wart mal, sagt sie. Mittwinter … weißt du noch, was sie gesagt haben? Ihre genauen Worte, mein ich.
Ich muss nicht mal nachdenken. Die Worte haben sich mir ins Gedächtnis eingebrannt. Ich sag:
Der Kerl sagt zu Procter John: Ist er das? Der Goldjunge da? Ist das der, der an Mittwinter geboren ist? Und Procter John sagt, ja, und dann fragt der Tonton Lugh: Wie alt bist du? Lugh sagt, achtzehn, und dann fragt er ihn noch mal, ob er an Mittwinter geboren ist. Lugh sagt, ja, und da haben sie ihn mitgenommen.
Als ob sie nach ihm gesucht haben, sagt Helen. Als ob sie gewusst haben, dass sie ihn am Silverlake finden.
Ich wunder mich, dass sie das sagt, einfach so. Genau, sag ich. Genauso ist es gewesen.
Sonst noch was?, fragt sie.
Nein, das ist es so ziemlich. Ach, nein, wart. Mercy hat gesagt, da ist ein Fremder bei uns gewesen, bei Lughs Geburt. Ein Mann.
Ein Mann. Wer? Weißt du seinen Namen?
Ja. Trask. Mercy hat gesagt, er hat sich Trask genannt. Sie hat gesagt, er wär ganz aus dem Häuschen gewesen, als Lugh auf die Welt gekommen ist. Er hätt immer wieder gesagt, ein Junge, der an Mittwinter geboren ist, wär eine wunderbare Sache. Immer wieder hätt er das gesagt, und keiner hat gewusst, warum. Und dann ist er einfach … verschwunden. Sie
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