Dying to Live - Die Traurigkeit der Zombies (German Edition)
nichts aus. Ich wusste, dass sie – im Gegensatz zu den anderen – sorgfältig mit den Sachen umging und alles wieder dorthin zurückstellte, wo sie es gefunden hatte. Manchmal brachte sie mir ein Buch, was ich sehr nett von ihr fand. Wenn es später am Abend dann dunkel wurde, gesellte sie sich zu mir und wir saßen einfach nur gemeinsam da. Inzwischen saß sie näher bei mir als früher und lehnte sich gegen mich. Das gefiel mir. Wie im Falle von Schmerzen, Tränen oder der Sprache verstand ich zwar, was Sexualität war, wusste aber auch, dass sie nun kein Teil mehr von mir war. Trotzdem gefiel es mir, wenn Lucy mir nahe war, und ich wünschte, ich hätte gewusst, wonach sie suchte, damit ich ihr dabei helfen konnte, es zu finden.
Dann, eines Nachmittags, als ich wieder auf dem Sofa saß und las, setzte Lucy sich mit einem kleinen schwarzen Kasten in der Hand neben mich. Darin befanden sich eine Geige und ein Bogen. Sie stimmte das Instrument, aber mein Gehör war entweder nicht ausgebildet oder nicht sensibel genug – oder vielleicht auch nur zu beschädigt –, um einen Unterschied oder eine Verbesserung zu erkennen. Dann klemmte sie die Geige zwischen ihr Kinn und ihre Schulter und begann zu spielen.
Ich muss zwar zugeben, dass ich auch auf diesem Gebiet kein Experte bin – ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob ich Geigenmusik überhaupt mag –, aber wenn Lucy spielte, klang es einfach göttlich. In gewisser Weise unterstrich die Tatsache, dass sie fähig war, diese fesselnde, bezaubernde Musik zu spielen, ihre atemberaubende, feminine Schönheit perfekt. Am allerbesten war jedoch, dass offensichtlich war, wie glücklich das Spielen sie machte.
Ich schaute an Lucy vorbei und sah zu, wie die anderen über das Gelände schlurften. Sie bewegten sich rastlos hin und her, blieben gelegentlich in unserer Nähe stehen und schienen einen Moment lang zuzuhören, genauso, wie sie manchmal irgendetwas aus einer Kiste griffen, es eine Sekunde lang untersuchten und dann wieder weiterzogen. Mir war bewusst, wie viel Glück Lucy und ich hatten, dass wenigstens noch ein paar unserer Sinne intakt waren. Diese Tatsache half mir auch dabei, zu verstehen, warum wir nicht dieselben Vorlieben hatten. Lucys Sehvermögen und ihre Fähigkeit, visuelle Eindrücke zu verarbeiten oder zu verstehen, mussten in Mitleidenschaft gezogen worden sein. Gleiches schien für ihre Fähigkeit zu gelten, ihren Körper richtig zu bewegen, wohingegen ihr Gehör und ihre Liebe zur Musik erhalten geblieben waren, und ihre Fingerfertigkeit war schlicht außergewöhnlich. Ich wiederum hatte Schwierigkeiten damit, Dinge zu fokussieren, ich war nicht besonders geschickt und auch mein Gehör war nicht allzu gut ausgebildet, aber ich besaß noch immer die Fähigkeit zu lesen.
Und die anderen? Ich war mir nach wie vor nicht sicher, wozu sie fähig waren. Plötzlich befürchtete ich – und der Gedanke machte mich sehr traurig –, dass jeder von ihnen noch immer über einen Körperteil verfügte, der perfekt funktionierte, dass sie aber nicht in der Lage waren, dies auszudrücken oder mit uns zu teilen, weil ihre Körper so tollpatschig und unbeweglich waren. Aus demselben Grund hatte sich schließlich auch die arme Lucy so lange abmühen müssen, bevor sie endlich ihre Geige fand.
Was Milton und Will betraf, so waren sie ein völliges Rätsel für mich, wenn es um ihre Fähigkeiten oder Unzulänglichkeiten ging, abgesehen davon, dass sie noch immer in der Lage waren, zu sprechen – eine Fähigkeit, die uns allen hier verloren gegangen war. Vielleicht waren ihre Defizite insgesamt geringer und sie hatten deshalb das Sagen. Oder es hatte ausschließlich damit zu tun, dass sie uns wehtun konnten, wenn sie wollten. Milton hatte so etwas angedeutet, als er gesehen hatte, wie ich Will angsterfüllt anstarrte. Aber er hatte auch gesagt, dass wir hier eingesperrt waren, damit wir niemandem wehtaten. Im Großen und Ganzen verwirrte mich die Situation ziemlich, aber nun, da Lucy glücklich war, fühlte auch ich mich viel besser.
Lucy und ich verbrachten noch immer jeden Morgen zusammen und durchstöberten die Schätze in den Lagerräumen, auch wenn sie nicht mehr mit demselben Antrieb und derselben Frustration zu Werke ging. Meist suchte sie nur nach weiteren Büchern für mich, manchmal fand sie aber auch Dinge, die sie selbst mochte. Besonders gefiel es ihr, wenn sie irgendwelche Geräusche von sich gaben, wie Spieldosen oder andere Musikinstrumente,
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