Dylan & Gray
ihren Fotokurs. Sie soll sich ein unbewegliches Objekt aussuchen und es von allen Seiten knipsen. Im Unterricht werden die Bilder dann unterschiedlich gefärbt, um zu zeigen, wie sich ein Objekt verwandeln kann, wenn man sich die Zeit für neue Perspektiven nimmt. Dylans Vater hat ihr für die Sommerferien seine alte manuelle Kamera geliehen. Sie erzählt mir alles über Verschlusszeiten, Gegenlichtaufnahmen, Schärfeneinstellung und Fokussierung.
Auf unserer Wanderung entdecken wir, was diesen Nationalpark so besonders macht: Er ist die Heimat einer riesigen Ansammlung von Saguaro-Kakteen, die das Wahrzeichen von Arizona sind. Sie können Jahrhunderte alt werden und ihre verzweigten grünen Stachelstämme sehen aus wie Arme, die sich der Sonne entgegenrecken. Wir kommen an einem Saguaro vorbei, in dessen Seite sich eine klaffende Wunde befindet, als habe ein Riese sich heruntergebeugt und einen Happen aus seinem grünen Fleisch herausgebissen. Das Kakteenskelett liegt offen und man sieht den braun verholzten Kern im Inneren. Dylan hält an, um einen näheren Blick darauf zu werfen, und ich bleibe neben ihr stehen.
»Der Kaktus stirbt«, sage ich. »Wenn das Skelett sichtbar ist, hat er keine Chance mehr.«
»Trotzdem ist er schön«, behauptet sie. Ich starre auf den verschrumpelten Saguaro und versuche etwas Schönes daran zu entdecken. »So will ich auch einmal enden«, überlegt sie laut.
»Wie?«, frage ich. »Jemand soll dich aufbrechen bis auf die Knochen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Ich meine, am Ende will ich nichts zu verbergen haben. Und nichts zu bedauern. Dieser Kaktus hat in vollen Zügen gelebt und war ein Kämpfer; das beweisen seine Narben. Was nützt es schon, ohne jeden Kratzer ins Jenseits zu verschwinden? Wenn man im Tod perfekt aussieht, heißt das nur, dass man nichts erlebt hat. Weil man zu feige war, etwas zu riskieren.«
Ich gehe um den Saguaro herum. Dylan folgt mir und schießt Fotos. Wann immer sie auf das perfekte Motiv konzentriert ist und mich nicht bemerkt, betrachte ich sie aus den Augenwinkeln. Heute wirkt sie anders auf mich als bisher. Geradezu anmutig. Mein Blick folgt ihren Bewegungen, während sie sich herunterneigt und in die Hocke geht. Ich sehe zu, wie ihr Rücken sich rundet und ihr Hals sich beugt. Sie hat lange schmale Finger und silberne Ringe glitzern in der Sonne. Die Muskeln ihrer schlanken Arme spannen sich, Schmuckreifen klirren bei jeder Bewegung.
Wir überlegen gemeinsam, womit die Kakteen gerade beschäftigt sind. Sie zeigt mir einen tanzenden und einen betenden Saguaro. Ich entdecke einen, dessen fingerartige Auswüchse zu einer Faust geschlossen sind bis auf den mittleren, der senkrecht in die Luft ragt.
»Der zeigt deutlich, was er von uns hält«, sage ich. Sie stellt sich neben mich und betrachtet eingehend den aufragenden Mittelfinger, der stolz und trotzig in Richtung des Highways zeigt.
»Ihr beide scheint einiges gemeinsam zu haben«, sagt Dylan.
Sie knipst ein Foto und lächelt mich an. Ich habe sie heute bestimmt schon hundert Mal lächeln sehen, aber das hier ist anders. Es füllt ihre Augen ganz aus. Es nimmt mir den Atem. Ich schaue weg und trinke das letzte Wasser aus meiner Flasche. Anscheinend ist mir die Hitze aufs Gehirn geschlagen.
Sie wendet sich wieder dem Pfad zu, aber ich stehe wie angewurzelt und versuche meine Gefühle zurück in normale, geordnete Bahnen zu zwingen. Undenkbar, dass ich dieses Mädchen tatsächlich mag. Dafür ist sie zu durchgeknallt. Sie streckt sich bäuchlings auf Fußwegen aus und freundet sich mit Obdachlosen an. Sie besteht darauf, dass ihr Auto eine Persönlichkeit hat. Sie glaubt, Kakteen könnten tanzen. Andererseits gibt es wenige Leute, die mich überraschen. Und ich muss zugeben, dass mein Blick immer länger an ihrem schlaksigen Körper haften bleibt, genau wie meine Gedanken an allem, was sie sagt. Als mir diese Erleuchtung kommt, gibt es dafür nur einen passenden Ausdruck: Oh shit.
Ich will keine Gefühle für Dylan haben. Abgestumpft zu bleiben ist viel sicherer.
Dylan
Wir folgen dem Rundweg, bis der Parkplatz in Sicht kommt, wo Gürkchen auf uns wartet. Als ich die Kühltasche öffne, dümpeln zwei Sandwiches im geschmolzenen Eis herum. Bei näherer Inspektion stelle ich aber fest, dass die Verpackungen dem Wasser standgehalten haben. Also reiche ich Gray ein Sandwich und eine Getränkedose. Ich selbst schnappe mir eine Tüte mit Lakritz und eine mit Chips. Wir hocken uns im
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