Dylan & Gray
zu schreiben. Erst du eine Zeile, dann ich.«
Ich erwarte, dass er abwinkt und »Vergiss es« murmelt, doch stattdessen greift er nach dem Füller. Er stopft sich ein paar Chips in den Mund und schreibt. Dann wirft er mir das Heft zurück. Seine Handschrift ist klar, ordentlich und leicht zu lesen. Genau das Gegenteil von meiner. Ich rufe seine Worte laut in den Wind, sodass er überrascht zusammenzuckt.
»Mein Phoenixkaktus«, schreie ich und recke die geballte Faust in den Himmel. Ich schaue Gray an und nicke. »Das ist doch ein solider Anfang.«
So machen wir eine Stunde lang weiter. Wir erfinden Zeilen und streichen sie wieder. Wir stellen uns abwechselnd auf den Picknicktisch, um unsere Entwürfe der Kakteengroßfamilie vorzutragen, die um uns versammelt ist. Ich versuche die Worte »phallisch« und »Viagra« in Grays Gedicht einzuschmuggeln, denn ich habe noch nie ein Gewächs gesehen, das eindeutiger zu gewissen Vergleichen einlädt als der Saguaro. Aber Gray hält dagegen, dass seine Klasse den Text lesen wird und nicht denken soll, er sei besessen von männlichen Geschlechtsteilen.
»Na gut, dann eben nicht«, sage ich.
Gray
Ich bitte Dylan, auf dem Rückweg kurz bei mir zu Hause anzuhalten, damit ich mich für die Arbeit umziehen kann. Die Zeit ist so schnell verflogen, dass ich keine Chance habe, noch pünktlich zur Abendschicht zu kommen. Als wir in die Hauseinfahrt abbiegen, ist Mom gerade draußen, um die Post zu holen. Ungläubig starrt sie den Wagen an, der gurgelnd und röchelnd vor ihr zum Halten kommt.
»Gürkchen leidet vielleicht auch noch an einer Lungenkrankheit?«, frage ich. Dylan wirkt erschüttert, dass ich so etwas sagen kann.
Als Mom mich auf dem Beifahrersitz bemerkt, entspannt sich ihr erschöpftes Gesicht.
»Deine Mutter sieht gut aus«, flüstert Dylan. »Sie hat die gleichen blauen Augen wie du.«
Ich presse die Lippen zusammen und öffne die Autotür. Eigentlich hatte ich nicht geplant, die beiden einander vorzustellen, aber Dylan ist schneller als ich. Sie stellt den Motor aus – zu Gürkchens Erleichterung –, springt aus dem Wagen und schnappt sich Moms Hand, um sie energisch zu schütteln. Meine Mutter schaut sie verwirrt an und reagiert mit einem zerstreuten Lächeln.
»Freut mich, dich kennen zu lernen«, sagt sie und wendet sich dann mir zu. Ihre Augen sind glasig, als habe sie gerade geweint. Aber diesen Anblick bin ich inzwischen so gewohnt, dass er mir fast egal geworden ist.
»Ich habe heute ein paar Besprechungen und muss gleich los«, sagt sie. »Dad kommt erst mit einem späten Flug zurück, also hast du das Haus für dich allein.«
Ihr Blick wandert zu Dylan, die das als Aufforderung betrachtet, Mom ihre halbe Lebensgeschichte zu erzählen. Sie erklärt, dass sie während der Sommerferien in Phoenix ist und mich auf dem Campus getroffen hat. Sie erzählt Mom, dass ich ein begabter Dichter mit großer Zukunft bin. In der ganzen letzten Woche habe ich weniger mit meiner Mutter gesprochen als Dylan in knapp fünf Minuten, was mich ein bisschen aus der Fassung bringt. Mom wirkt genauso überrascht. Sie wendet sich mir zu und fragt, ob ich für heute Abend etwas zu Essen haben will. Ich sage, dass ich mich zur Arbeit verspätet habe und mir unterwegs einen Snack kaufen werde. Ihre Augen schauen leer durch mich hindurch, während ich rede.
»Prima. Du kannst dir den Rest vom Mittagessen aufwärmen«, sagt sie. Ich werfe Dylan einen unauffälligen Blick zu. Ob sie etwas gemerkt hat? Sie schaut für den Bruchteil einer Sekunde zurück und die Antwort ist klar: Natürlich hat sie etwas gemerkt. Mom verabschiedet sich und wir schauen ihr nach, als sie in der Garage verschwindet.
»Sie wirkt traurig«, sagt Dylan leise.
»Nur zerstreut«, wehre ich ab. »Sie hat eine Menge um die Ohren.«
Dylan schaut mich an. »Hast du eigentlich Geschwister?«
»Nein«, sage ich schnell und beuge mich in den Wagen, um meine Wasserflasche herauszuholen. Ich kann ihren Blick im Nacken spüren. Jemand sollte ihr sagen, dass übertriebene Neugier eine sehr nervige Eigenschaft ist.
»Manchmal bist du mir echt ein Rätsel«, sagt sie. Ich zucke mit den Schultern und hole den iPod aus meiner Tasche.
»Ich glaube, deshalb mag ich dich so«, grinst sie, legt die Hand auf meinen Arm und drückt ihn kurz. Ich werde rot und gehe automatisch einen Schritt auf Abstand.
Bevor ich nach drinnen verschwinde, schaue ich noch einmal zurück. Dylan lehnt mit gekreuzten Beinen und
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