Dylan & Gray
freiwillig in Klischees. Ihr Verhalten ist peinlich leicht vorherzusagen. Um ihre Unsicherheit zu überspielen, greifen sie zu allem, was die Luxusindustrie ihnen gerade als Must-Have anpreist. Auf Menschen kann man sich einfach nicht verlassen. Früher oder später enttäuschen sie dich immer.«
Er bohrt seinen Blick in meinen, als wolle er mich warnen, dass nun alle Dämme gebrochen sind und ich das Weite suchen sollte, bevor ich in seinem Wortschwall ertrinke. Irgendwie ist es mir gelungen, ihn zum Reden zu bringen – und jetzt ist plötzlich kein Halten mehr.
»Willst du wissen, was ich sonst noch denke?«
Ich nicke.
»Ich denke, dass alle sich in ihren winzigen Welten eingeigelt haben, die sie fürs Zentrum des Universums halten. Auf Beziehungen lassen sie sich nur ein, wenn es gerade bequem ist. In der Nähe anderer Menschen muss man wie auf Eiern gehen, weil sie mehr Erschütterung nicht aushalten. Man darf sie niemals mit der Wahrheit konfrontieren, sonst bricht ihre dünne Schale aus Selbstbewusstsein in Stücke. Also lernen wir, ein falsches Lächeln aufzusetzen und uns wie feige Mitläufer zu benehmen. Wir sind stets auf Habacht, damit bloß niemand bemerkt, dass unser Leben nicht perfekt ist. Dass wir nicht perfekt sind. Denn ganz ehrlich, wer will so etwas schon sehen?«
Er nimmt einen großen Bissen von seinem Burrito und zeigt damit an, dass seine aufmunternde Rede beendet ist.
Ich schreibe ein paar Worte und schiebe den Ringhefter über den Tisch.
Interessante Theorie. Was für Schlüsse ziehst du daraus?
Er schaut mir ins Gesicht. »Meine Theorie ist, dass man alle Menschen auf den Mond schießen sollte. Daraus folgt, dass ich niemanden brauche.«
Ich verdrehe die Augen, doch das bestärkt ihn nur.
»Wirklich«, sagt er. »Ich habe meine Musik, Bücher und Kabelfernsehen. Was brauche ich mehr?«
In Zeichensprache sage ich Hühnerkacke und er lacht.
»Ich fühle mich nicht einsam«, sagt er nachdrücklich. »Ich bin in bester Gesellschaft, nämlich meiner eigenen. Die meisten Leute brauchen ständig Ablenkung, damit sie keine Zeit haben, über ihr Leben nachzudenken. Sonst würden sie vermutlich implodieren, weil ihre eigene Leere sie einsaugt und umkrempelt wie ein schwarzes Loch. Und wenn sie dann in sich reinschauen können, finden sie dort etwas ganz Monströses. Eine tickende Zeitbombe.«
Zu viel Unabhängigkeit ist nicht gut , schreibe ich.
Während er den Satz liest, lehne ich mich über den Tisch zu ihm vor. Er beugt sich zurück, weg von mir.
»Die Leute machen einen nur verrückt«, sagt er und betont jedes Wort.
Wenn man keine Leute an sich heranlässt, wird man auch verrückt.
»Da bin ich anderer Meinung«, sagt er. Ich beginne wieder zu schreiben und er lächelt über meine Hartnäckigkeit. Wir sind beide entschlossen, nicht nachzugeben. Je mehr ich ihn umstimmen will, desto widerspenstiger verteidigt er sich. Ich schiebe den Hefter über den Tisch.
Schau dich einfach nur in der Welt um. Ohne Sonne wäre die Erde tot. Die Pflanzen würden ohne Regen sterben. Nichts und niemand kommt ganz allein zurecht. Wir sind dafür geschaffen, uns auf andere zu stützen.
Ich lächele. Er runzelt die Stirn. Als er den Blick durch das Restaurant schweifen lässt, entdeckt er die Mädchenclique am Nachbartisch, die uns schon länger beobachtet und vermutlich seinen ziemlich verbitterten Tiraden gelauscht hat. Er überrascht mich, indem er mir den Stift aus der Hand rupft. Dann beginnt er etwas in seinen deutlich lesbaren Blockbuchstaben zu schreiben.
Er schiebt mir den Brainstormer zu.
Ich baue Mauern um mich herum. Darauf kann ich mich stützen.
Nach dem Grund brauche ich nicht erst zu fragen – schließlich baut jeder von uns Mauern, um dahinter Schutz zu suchen. Bei Gray sind sie nur höher und dicker als normal.
Schnell kritzele ich: Vielleicht solltest du ab und zu einen Durchgang öffnen. Während er antwortet, behalte ich den Nachbartisch im Blick. Die Mädchenhorde beobachtet uns immer noch.
Der lässt sich leicht wieder zumauern , antwortet Gray.
Aber du könntest die Gelegenheit nutzen, ein Fenster einzubauen. Oder eine Tür?
Er schiebt mir den Hefter zurück und sagt laut: »Du bist merkwürdig. Hat das schon mal jemand erwähnt?«
Danke für das Kompliment. Lieber merkwürdig, als übersehen werden.
»Wer könnte dich schon übersehen?«, sagt er und unsere Blicke bleiben ein paar Sekunden aneinander hängen, bevor er den Kopf abwendet.
Ich trommele
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