Dylan & Gray
Satz im Notizheft.
Man sollte öfter spontan sein. Ich habe mir vorgenommen, einmal am Tag zu tun, was mir gerade in den Sinn kommt.
Ich ziehe die Brauen zusammen.
»Nur einmal?«, frage ich und setze mich neben sie ins Gras. Ich muss zugeben, dass sie mich neugierig gemacht hat. »Was war denn gestern deine planlose Aktion?«
Während sie schreibt, denke ich an unseren Wanderausflug zurück, der aus einer spontanen Verrücktheit nach der anderen bestand. Wie will sie da einen einzigen Moment herauspicken? Sie reicht mir das Notizheft zurück.
Ich habe zwei Zeitschriften gekauft, die ich noch nie gelesen habe. World of Wrestling und Das Hausfrauenmagazin .
Nach dem Grund brauche ich nicht erst zu fragen. Ich schaue zu, wie sie ein einziges Wort schreibt.
Perspektive.
Als sich unsere Blicke treffen, macht mein Herz einen Hüpfer, als wäre es ein Luftballon an einer Schnur, den Dylan auf und ab rucken lässt. Sie erinnert mich an jemanden, den ich früher geliebt habe. Ich war immer überzeugt, dass es eine so ungewöhnliche Person nur einmal auf der Welt geben kann.
E rstes Schweigen
Dylan
Gray bringt mich zu seinem Lieblingsmexikaner, einem Schnellrestaurant namens Taco Boys. Vor der Tür erklärt er, dass er mich heute in die kulinarische Kultur von Phoenix einführen wollte – er hatte bloß nicht erwartet, dass ich die ganze Zeit sprachlos sein würde.
Drinnen schreibe ich der ältlichen Frau am Tresen meine Bestellung auf. Sie wartet mit geduldigem Lächeln und geht davon aus, dass ich taubstumm bin. Nachdem sie den Zettel gelesen hat, nickt sie mir mitleidig zu und spendiert mir eine kostenlose Cola.
Wir setzen uns in eine Nische und während wir auf das Essen warten, nutzt Gray die Gelegenheit, mir sämtliche unanständigen Ausdrücke beizubringen, die er in Taubstummensprache kann. (Er behauptet, damit würde ich neunzig Prozent seines Wortschatzes kennen.) Außerdem kann er die Zeichen für »pupsen« und für »Jesuskind«, die Überbleibsel aus seiner Konfirmandenzeit sind, obwohl ich annehme, dass nur eins davon offizieller Teil des Unterrichts war. Als das Essen kommt, kriegen wir mit unserem gemeinsamen Wortschatz bereits drei Sätze zusammen: »Darauf werde ich hühnerkacken«, »Her mit dem Geld, Schlampe« und »Jesus liebt dich.« Ich hoffe nur, dass wir in Zukunft genug Gelegenheiten bekommen, sie anzuwenden.
Gray macht sich über das Essen her und ich hole meinen Brainstormer aus dem Rucksack, um etwas aufzuschreiben. Dann schiebe ich den Hefter zu Gray hinüber und er liest Folgendes:
Ich dachte mir, ich könnte ein paar hilfreiche Weisheiten für mein Leben brauchen. Also bin ich zu einer Lesung gegangen. Da hat ein Reiseschriftsteller sein Buch vorgestellt und Autogramme verteilt. Er war schon überall auf der Welt und hat Tausende von Menschen kennengelernt. Ich bin zu ihm gegangen und habe gesagt, dass ich gerne von ihm wissen würde, was der Sinn des Lebens ist. Aber da hat er nur gelacht und gemeint: »Okay, du hast mich durchschaut!«
Gray liest meinen Text und hebt eine Augenbraue. »War ja klar, dass du ausgerechnet jetzt ein tiefschürfendes Gespräch anfangen willst«, sagt er. »Dein Problem ist, dass du zu viel von den Menschen erwartest. Dagegen will ich einfach nur, dass sie mich in Ruhe lassen.«
Ich schreibe ein einziges Wort und drehe den Ringhefter zu ihm herum, damit er es lesen kann.
Wieso?
Er starrt mir ins Gesicht – ein herausfordernder Blick, als hätte ich gerade ein Thema angeschnitten, über das er lieber schweigen würde.
»Willst du die Antwort wirklich wissen?« Ich nicke bedächtig und er wartet ab, ob ich meine Meinung noch ändere. Dann holt er tief Luft. »Mir gehen Menschen wahnsinnig auf den Wecker«, sagt er. »Die meiste Zeit sind sie laut, nervös, grob, selbstsüchtig und strohdumm.«
Er beobachtet vorsichtig meine Reaktion, als fürchte er, ich würde ihm gleich das Heft um die Ohren schlagen. Stattdessen muss ich grinsen. Ich beiße in meine Tortilla und wedele mit der Hand, damit er weiterspricht. Diesmal zögert er nicht.
»Wenn sie gut aussehen, dann wissen sie das auch und machen sich nicht mehr die Mühe, eine Persönlichkeit zu entwickeln. Sie umgeben sich nur noch mit Leuten, die sich ihre erhabene Gesellschaft nicht leisten können. Trotzdem laufen ihnen alle hinterher, was überhaupt keinen Sinn ergibt. Menschen haben das verzweifelte Bedürfnis, akzeptiert zu werden, und aus einem Herdentrieb heraus verwandeln sie sich
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