Dylan & Gray
nachdenklich mit dem Stift auf dem Tisch herum, dann schreibe ich einen weiteren Satz. Als ich den Hefter rüberschiebe, beobachte ich Gray genau. Er blickt auf meine gekritzelte Frage.
Wenn jemand dir einen magischen Radiergummi schenken würde, mit dem du ein einziges Ereignis aus deiner Vergangenheit löschen könntest, welches würdest du wählen?
An seiner verschlossenen Miene sehe ich, dass ich zu nah an einen wunden Punkt gekommen bin. Er zieht sich den Mützenschirm tief in die Stirn. Vorhang zu, Thema erledigt. Ohne eine Antwort zu schreiben, schiebt er den Hefter zurück und schüttelt den Kopf.
»Darüber spreche ich nicht«, sagt er.
Während er seinen Burrito mit Nachos zu Ende isst, entwerfe ich einen Dankesbrief an den Manager von Taco Boys, in dem ich meiner Begeisterung für das Rezept ›Tortilla mit Huhn‹ Ausdruck verleihe. Er wird drei Seiten lang. Darunter male ich Herzchen, Regenbögen und deutlich lesbar die Unterschrift: Gray Thomas. Ich präsentiere ihm mein Werk mit einem stolzen Lächeln, doch er schüttelt nur den Kopf. Bevor wir gehen, überreiche ich meinen Brief der Kassiererin.
Im Auto starrt Gray stirnrunzelnd auf die Uhr neben dem Tacho. Wir haben über zwei Stunden bei Taco Boys verbracht. Er murmelt, dass ich die Zeit krümme wie ein Schwarzes Loch und er deshalb schon wieder zu spät zur Arbeit kommt. Dann dreht er die Musik auf. Ich lehne den Kopf zurück und schaue aus dem Fenster auf die staubige Landschaft und die eintönigen Einkaufszentren. Mit einem Mal überfällt mich ein unstillbares Verlangen nach Wasser, Bäumen und Wolken … nach allem, was dieser Wüstenstadt fehlt.
Auf dem Weg zurück zum Parkplatz des Mesa-Campus halte ich Gray eine weitere Frage vor die Nase.
Erzähl mir, was ich über das Leben in Phoenix wissen sollte.
Er zählt wahllos auf, was ihm gerade in den Sinn kommt. Ich erfahre, dass man den Wüstensommer am besten überlebt, wenn man sich von Sonnenlicht fernhält. Und von Asphaltstraßen.
»Berühr bloß nicht das Metallstück vom Sicherheitsgurt, wenn du dich in den Wagen setzt«, sagt er. »Sonst musst du mit Verbrennungen zum Arzt. Und such gar nicht erst nach Parkplätzen im Schatten. So etwas gibt es hier nicht.«
Er warnt mich, tagsüber nicht zu lange draußen herumzulaufen, denn wenn man zu viel von der Ofenhitze einatmet, kann man sich damit tatsächlich die Kehle verbrennen und Blasen innen im Hals bekommen. Geh nicht weiter als einen Häuserblock, wenn es sich vermeiden lässt! Fahr überall mit dem Auto hin! Nimm Wasser mit! Er empfiehlt einen Dreiliterkanister. Weil die Hitze so trocken ist, verdampft der Schweiß, und man bemerkt überhaupt nicht, wie viel Flüssigkeit man verliert. Man trocknet gefährlich schnell aus.
Er sagt, ich soll Gürkchens Reifen gut im Auge behalten, denn durch die Hitze dehnt sich das Gummi aus, so dass es platzen kann. Man muss den Reifendruck niedrig halten. Ich soll daran denken, dass Klapperschlangen taub sind und uns nicht kommen hören. Aber sie spüren Erschütterungen im Boden, deshalb sollte man auf Sandwegen ab und zu einen Stein vor sich werfen, um sie zu warnen. Dann flüchten sie. Klapperschlangen haben genauso viel Angst vor Menschen wie umgekehrt.
Ich beginne zu schreiben, während er redet.
Um Skorpione braucht man sich keine Sorgen zu machen, fährt er fort. Natürlich gibt es sie, aber falls man nicht gerade auf einem Wanderpfad zwischen den Felsen stochert, begegnet man ihnen nie. Er sagt, ich soll immer Sonnencreme mitnehmen. Und Lippenbalsam. Und mir ein Tattoo stechen lassen. Da ich ein Mädchen bin, empfiehlt er den Rückenabschnitt gleich über dem Po. Für Jungs eignet sich am besten ein Tribal-Motiv auf dem Bizeps. Lass dir die Haare blond mit noch blonderen Strähnen färben. Sprüh dich für die sexy Ganzkörperbräune mit Chemikalien ein, bis deine Haut ein natürliches Orange hat. Fahr im offenen Cabrio durch die Gegend. Mit einem sportlichen Ford Mustang gewinnst du schnell Freunde. Wenn du eher der Naturtyp bist, kauf dir einen Jeep der Marke Wrangler. So ein Vierradantrieb hat eine magnetische Anziehungskraft auf beide Geschlechter. Die richtige Sonnenbrille ist auch wichtig. Teuer und mit deutlich sichtbarem Markennamen. Falls du keinen eigenen Swimmingpool besitzt, sei wenigstens befreundet mit Leuten, die einen vorzuweisen haben. Geh oft Sushi essen. Das füllt den Magen und spart Kalorien. Zeig allen, wie ökologisch bewusst du lebst, indem du deinen Müll
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