Dylan & Gray
ich immer das Gefühl, mein Leben sei ein einziger Stundenplan. Man lebt gar nicht mehr selbst, sondern hakt vorgegebene Ziele ab. Was man für einen Silberstreif am Horizont hält, ist beim näheren Hinschauen eine Wäscheleine voller sonnengebleichter Socken. Die Zukunft sollte sich weit und frei anfühlen, nicht wie eine Zwangsjacke.
»Wenn man immer zu Hause wohnen bleibt, kann man nicht herausfinden, wer man ist«, sagt Dylan. »Wie viel wird uns von außen aufgedrückt? Wie viel von unserer Persönlichkeit ist nicht natürlich gewachsen, sondern wurde uns aufgepropft? Deshalb bin ich gegangen. Ich glaube, das sollten alle tun. Erst so können wir lernen, was in uns steckt.«
»Aber vermisst du deine Freunde nicht?«, frage ich.
Sie schüttelt den Kopf und sagt, dass sie eigentlich nie jemanden vermisst. »Ich bin viel zu gespannt darauf, wen ich als Nächstes kennenlerne. Wenn man sich an dem festklammert, was man zurückgelassen hat, kommt man gar nicht erst vom Fleck.«
Bestimmt war sie einfach zu gut für ihre miefige Kleinstadt, sage ich. Aber sie schüttelt den Kopf.
»Ich hatte nie das Gefühl, besser zu sein. Nur fremd und am falschen Platz. Als wenn in meinem Leben noch mehr auf mich warten müsste. Ich suche ständig nach etwas, das mich inspiriert. Mehr steckt eigentlich nicht dahinter.«
Sie hilft mir, die Blumen anzuordnen. Als sie mit dem Ergebnis zufrieden ist, fragt sie, ob wir den Strauß jetzt meiner Mutter überreichen sollen.
»Sie ist im Bett«, antworte ich. Dylan und ich schauen beide auf die Uhr an der Mikrowelle. Es ist noch nicht einmal neun. Ich starre zu Boden und warte darauf, dass die Fragen beginnen. Was muss Dylan über meine Mutter denken … über unser Familienleben … das leblose Haus … die Totenstille. Aber sie überrascht mich wie üblich.
»Lass uns rausgehen, okay?«, fragt sie, als könne sie spüren, wie meine Gedanken mich erdrücken. Vielleicht kann sie das tatsächlich. Kennt sie mich bereits so genau? Als ich nicke, dreht Dylan eine Pirouette und marschiert mit langen Schritten auf die Haustür zu.
E rste Entfaltung
Dylan
Gürkchen erwacht röchelnd zum Leben und ich stelle die Musik lauter. Cat Stevens’ raue Stimme untermalt die herbe Wüstenszenerie, durch die wir fahren. Gray erkundet meine CD -Sammlung, die zwischen uns in der Mittelkonsole lagert. Auf meine Nachfrage erklärt er, dass er gerade den ultimativen Freundschaftstest durchführt.
»Ich überprüfe, ob dein Musikgeschmack meinen Ansprüchen genügt«, sagt er feierlich. Anscheinend bekommt unsere Bekanntschaft damit eine ganz neue Dimension.
»Das klingt ein bisschen selbstgerecht«, stelle ich fest.
»So bin ich eben«, stimmt er zu. Er behauptet, beste Freunde hören immer ähnliche Musik. Das sei eine Frage des Respekts.
»Kann jemand, der Miley Cyrus anhimmelt, wirklich eine haltbare Beziehung zu einem Indie-Rock-Fan haben?«, fragt er.
»Klar«, sage ich.
»Keine Chance«, behauptet Gray. Er vertritt die Meinung, dass man am Musikgeschmack erkennt, was für ein Leben sich die betreffende Person ausgesucht hat. Das Miley-Cyrus-Fangirl geht zum Kaffeetrinken ins Starbucks, während der Indie Rocker gegen Konzernketten ist und auf Öko steht. In der Highschool wird sie Cheerleader und er Bandgitarrist. Sie shoppt in Edelboutiquen, er kauft seine Klamotten secondhand. Sie verbringt die Osterferien am Strand von Mexiko, er trampt zum Snowboarden in die Rocky Mountains. Keinerlei Gemeinsamkeiten.
»Du hast ein paar sehr interessante Theorien, Gray«, sage ich.
In meinem Wagen gibt es nur eine kleine Musikauswahl, aber Gray zeigt sich positiv überrascht, dass Gürkchen überhaupt einen funktionierenden CD -Spieler besitzt. Während er sich die Alben anschaut, gibt er kurze Kommentare ab. Greatest Hits von Cat Stevens (exzellente Auswahl), The Killers (geniale Band), The Cure (beeindruckend), Paul Simon (gehört in jede Sammlung) und The Clash. Er schaut mich mit zufriedenem Lächeln an und ich kann regelrecht sehen, wie sein Respekt für mich in neue Höhen schnellt.
»Okay, wohin soll ich fahren?«, frage ich und bin insgeheim geschmeichelt, dass ich seinen Test bestanden habe. Meistens ist es mir egal, was Leute von mir denken, aber bei Gray fühlt sich schon der Hauch eines Lächelns wie ein Hauptgewinn an, denn ich weiß, dass er es ehrlich meint. Er hat einfach kein Talent, sich zu verstellen. Jetzt zeigt er geradeaus auf ein paar Lichtpunkte in der Ferne.
»Camelback
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