Dylan & Gray
Hand darüberzufahren und ihre Haut zu berühren, ist so groß, dass meine Fingerkuppen brennen.
»Kann ich dich was fragen?«, sage ich, hebe zögernd die Hand und streiche damit durch ihre Haare. Seidenweich gleiten sie zwischen meinen Fingern hindurch. Das Gefühl lässt meinen Puls rasen. Dylan zieht scharf die Luft ein und blickt mir in die Augen. Lichtpunkte spiegeln sich in ihren Pupillen.
»Wieso bist du hier?«, frage ich. Sie schaut mich überrascht an und ich ziehe die Hand fort, um wieder klar denken zu können. »Komm schon, ich bin ja nicht hirnlos«, sage ich. »Mir ist völlig klar, dass Freizeit mit mir kein Picknick ist. Ich bin ein langweiliger Typ, der bittere Bemerkungen macht, und ich war nicht einmal nett zu dir.«
»Du bist überhaupt nicht langweilig«, protestiert sie. »Und du kannst nett sein. Vermutlich aus Versehen, aber es ist durchaus schon vorgekommen.«
»Du weißt genau, was ich meine«, sage ich. Wir sind beide aus unseren Sandalen geschlüpft und ich lasse meinen Zeh über ihren Fuß wandern, bis ich den ziemlich spitzen Knöchel erreiche. Sie macht keine Anstalten, ihn wegzuziehen. »Ich habe den größten Teil der Zeit versucht, dich zu vergraulen. Was mir übrigens leid tut. Und ich bin froh, dass du trotzdem wieder aufgetaucht bist. Aber wieso?«
Sie lächelt mich an.
»Und sag jetzt bloß nicht, weil du mich süß findest.«
Dylan zuckt mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht. Du bist eine interessante Herausforderung«, sagt sie. Ich hebe die Augenbrauen. In Phoenix lassen sich bestimmt besser gelaunte Leute finden, die trotzdem interessant sind. Dylan hält nichts von diesem Einwand. »Aber ihnen fehlen deine zahlreichen Theorien über das Leben«, sagt sie. Okay, das dürfte stimmen.
»Ich mag Menschen, die man erst nach und nach durchschaut«, fährt sie fort. »Denn das ist eine Eigenschaft, die ich nie haben werde – ich bin kein bisschen mysteriös. Bei mir bekommt man alles auf dem Silbertablett serviert. Also faszinieren mich Menschen, die es einem schwer machen, an sie heranzukommen. Weil sie das genaue Gegenteil von mir sind, nehme ich an.«
Ich gucke sie nur verwirrt an.
»Du magst Computerspiele, oder?«, fragt sie.
Ich nicke. Klar, welcher Typ in meinem Alter mag sie nicht?
»Okay, in den meisten Spielen sieht man unten auf dem Bildschirm, wie viel Lebensenergie der Gegner noch hat. Das Ziel ist, seinen Balken auf Null zu drücken. Aber dazu muss man erst sämtliche Taktiken und Abwehrstrategien lernen, die er anwendet. Siehst du, so ähnlich kommst du mir vor.«
Ich schaue ins Leere, während mir dieser bizarre Vergleich durch den Kopf geht. »Du versucht, meine Lebensenergie auf Null zu drücken?«
Sie grinst und reibt sich die Lippen mit Sonnenschutz ein.
Ich bin eifersüchtig auf einen Fettcremestift. Das ist mir garantiert noch nie passiert.
»Ich ballere deine Mauern weg, weil ich sehen will, was dahinter steckt. Und je größer die Löcher werden, desto besser gefällt mir die Aussicht«, sagt sie. »Außerdem finde ich dich süß«, fügt sie hinzu.
Sie schaut auf die Großstadtlichter unter uns und wechselt scheinbar das Thema.
»Weißt du, weshalb ich die Wüste so mag?«, fragt sie. Ich schüttele den Kopf. »Weil man nur hier die Erde sieht, wie sie wirklich ist. Nackt und ungeschützt. Wenn man von dieser Kargheit umgeben ist, kann man sich nicht verstellen. Man beginnt ganz von selbst, seine Gedanken zu öffnen.«
Sie schaut mir ins Gesicht und wartet. Ihr Blick ist entschlossen.
»Okay, schon gut«, gebe ich nach und frage sie, was sie wissen will.
»Wozu brauchst du die ganzen Mauern?«, fragt sie. »Was ist los?«
Ich wende meinen Körper von ihr ab und starre auf die leuchtende Ebene unter unseren baumelnden Beinen. Natürlich könnte ich so tun, als wüsste ich gar nicht, wovon sie spricht. Oder ich könnte lügen. Aber das will ich nicht. Nicht bei diesem Mädchen.
Ich schaue Dylan an. Irgendwann muss ich jemandem die Wahrheit sagen. Bevor es mich innerlich zerreißt.
»Meine Familie bricht auseinander«, sage ich schließlich. Dylan bekommt diesen speziellen Blick, bei dem sie sich ganz auf mich konzentriert und den ich inzwischen ihr Zuhörer-Ich nenne. Ihre Augen schauen mich an und laden mich ein, eine Weile zu bleiben. Ich hole tief Luft. Bin ich wirklich bereit für dieses Gespräch? Meine Hände ballen sich von selbst zu Fäusten.
»Was ist passiert?«, fragt sie.
»Meine Mutter ist depressiv«, sage ich,
Weitere Kostenlose Bücher