Dylan & Gray
Hand.
»Dylan!«, sage ich und falle ihr beinah um den Hals. Ich halte mich am Türrahmen fest, um nicht allzu überschwänglich zu werden. Ein bisschen Coolness sollte man schon behalten.
Sie hält mir die Blumen entgegen. »Für deine Mutter«, sagt sie und erklärt, dass es sich um Strelizien der Sorte »Paradiesvogel« handelt, die sie ganz besonders mag. Ich nehme den Strauß entgegen, ohne den Blick von Dylan zu lösen. Die Haare fallen ihr offen über die Schultern. Sie trägt ein ausgeleiertes T-Shirt und eine zerrissene Jeans, aus deren Löchern ihre Knubbelknie hervorschauen. Ich frage mich, ob sie sich auch mädchenhafter zurechtmachen kann, wenn sie will. Außerdem beginne ich mich zu fragen, wie ihr Körper unter all den schlabberigen Klamotten aussieht.
Ich fresse sie fast mit Blicken auf, weil mein Hunger nach Dylanbildern plötzlich enorm ist. Habe ich mir wirklich eingebildet, dieses atemberaubende Geschöpf sei linkisch? Dylan strahlt mehr Selbstbewusstsein aus als alle Mädchen, die ich kenne.
»Ich hoffe, euren Nachbarn macht es nichts aus, dass ich ihren Garten geplündert habe«, sagt sie und tänzelt an mir vorbei ins Haus. Schlagartig löse ich den Blick von ihrem Körper und starre stattdessen die Blumen an.
»Du hast die Strelizien bei den Nachbarn geklaut?«, frage ich geschockt. Ich weiß nicht viel über das Rentnerpaar nebenan, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Mrs Paulson wacht über ihren Wüstengarten wie eine Tigerin über ihr Neugeborenes.
Dylan grinst. »War nur ein Scherz«, sagt sie. »So fies könnte ich nie sein.« Sie folgt mir durch den Flur zur Küche, und ich werfe ihr über die Schulter einen finsteren Blick zu.
»Wo hast du die ganze Woche gesteckt?«, frage ich wie ein eifersüchtiger Lover, der regelmäßige Anrufe erwartet. Dylan macht nicht den Eindruck, als würde sie sich wegen der verflossenen Tage viele Gedanken machen. Sie lässt die Finger über die Küchenplatte aus Marmor wandern und betrachtet die Fotos am Kühlschrank. Nebenbei erzählt sie mir, dass sie mit ihrer Tante ein paar Tage nach Tucson gefahren ist, um als Ehrenamtliche bei einem Kunstfestival mitzuhelfen.
»Hast du mich vermisst?«, fragt sie, lehnt sich vor und schaut mich herausfordernd an. Mein Blick wird von ihren Lippen angezogen. Zuerst lächeln sie, dann bilden sie eine kleine Schnute und spielen Pin-up-Girl. Bei Dylan sieht der Schmollmund tatsächlich sexy aus. Ich schlucke hörbar und wende mich ab, um im Schrank nach einer Vase zu suchen.
Sie fragt, ob ich einen Hund habe, und als ich verneine, sackt die Schnute enttäuscht in sich zusammen.
»Dachte ich mir schon.«
Während ich die Blumen ins Wasser stelle, erzählt sie mir, dass sie ihre Hunde vermisst, die zu Hause in Wisconsin warten, und dass sie dringend eine Dosis Welpenkuscheln gebrauchen könnte.
»Wie bist du eigentlich dazu gekommen, für den Sommer nach Phoenix zu ziehen?«, frage ich.
Ihre Antwort lautet, dass sie immer schon auf Händen laufen wollte.
»Hä?«, sage ich.
»Du weißt schon, aus dem alltäglichen Trott ausbrechen, das Leben aus einer anderen Perspektive sehen. Arizona ist genau das Gegenteil von zu Hause. Als hätte man Wisconsin auf den Kopf gestellt.«
Sie erzählt, dass es in Wisconsin keine Wüsten gibt, dafür jedoch Sommergewitter, nassschwüle Luft und Mückenplagen. Außerdem Flüsse und Seen – manche davon riesengroß – , dunkle Wälder und Lichtungen voller Glühwürmchen.
»Aber keine Saguaros«, beendet sie ihre Aufzählung.
Ich hebe die Brauen, denn ich bezweifle, dass es bei ihrer Entscheidung darum ging, endlich mal eine neue Landschaft zu sehen. »Du bist mehrere tausend Meilen gefahren, um dir Kakteen anzuschauen?«
»Nein«, sagt sie. »Ich bin hergekommen, um mit meinem Leben anzufangen.«
»In Wisconsin warst du also scheintot?«, witzele ich. »Oder etwa im Koma?«
»Kryonisch eingefroren und erst vor zwei Monaten aufgetaut.«
»Oookay, schon klar.«
»So hat es sich jedenfalls angefühlt«, sagt Dylan. Sie erzählt mir, dass sie in einer gemütlichen, sicheren Kleinstadt aufgewachsen ist. Und genau darin lag das Problem. Alles war zu bekannt und zu voraussehbar. Wie kann man Abenteuer erleben, wenn man weiß, wohin jede Straße führt? Wie soll man sich zu einem Individuum entwickeln, wenn in der Highschool alle in Gruppen zusammenhängen, die mit Labeln versehen sind wie Markenartikel.
Ich nicke, denn das verstehe ich gut. In der Highschool hatte
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