Dylan & Gray
»und mein Vater ist nie zu Hause. Wenn ich ihn doch einmal sehe, kommt er mir vor wie ein Schlafwandler. Wir haben seit Monaten kein Wort mehr gewechselt.« Dylan sitzt schweigend und still neben mir. Ich werfe ihr einen scharfen Blick zu. »Deshalb brauchst du jetzt kein Mitleid zu bekommen. So ist das Leben halt. Wir stehen das schon durch.«
Sie nickt und ich atme noch einmal tief ein. Dann erzähle ich ihr alles. Ich spreche davon, wie meine Schwester vor acht Monaten gestorben ist – meine Zwillingsschwester – , und die Wut schnürt mir fast die Kehle zu, als ich meine eigenen Worte in der Stille höre. Ich hatte gehofft, dass der Schmerz nachlassen würde. Aber jetzt ist er wieder da, so stechend wie ein Schlangenbiss, der mich bis auf die Knochen zerfrisst. Noch immer kann ich ihren Tod nicht akzeptieren. Lieber stelle ich mir vor, dass sie auf einer langen Reise ist und sich irgendwo in der Welt herumtreibt. Sie kann jeden Tag auftauchen und uns alle mit ihrer Rückkehr überraschen.
»Die letzten Monate waren nicht einfach«, sage ich und ziehe den Schirm meines Käppis tiefer.
Ich erzähle Dylan, wie meine Schwester bei einem Autounfall ums Leben gekommen ist. Auf dem Weg nach Flagstaff ist sie in einen Schneesturm geraten und das plötzliche Glatteis hat ihren Wagen zum Schleudern gebracht. Meine Familie ist darüber in die Brüche gegangen. Ich versuche die Scherben zusammenzuhalten, aber ich eigne mich nicht besonders gut als Alleskleber.
»Du willst weg von hier«, sagt Dylan mit fragendem Unterton.
Die Antwort steht mir ins Gesicht geschrieben.
»In Phoenix erinnert mich alles an sie. Ich komme mir vor, als wäre die ganze Stadt ein Friedhof. Als würde ich zwischen Gräbern leben.«
»Wie heißt sie?«
»Amanda.«
»Und ihr habt euch viel bedeutet?«, fragt sie.
»Oh, ja. Eine Weile war sie mit meinem engsten Schulfreund zusammen – Brandon, den wir in der Mill Avenue getroffen haben. Wir drei waren unzertrennlich.« Die meisten Typen, die ich kenne, würden es peinlich finden, ihre Schwester als beste Freundin zu bezeichnen. Aber ich erkläre Dylan, dass wir echte Seelenverwandte waren.
»Den Monat nach ihrem Tod habe ich aus meiner Erinnerung radiert. Totale Gedächtnislücke.« Ich lächele selbstironisch. »Da bin ich wohl ins Reich der Schatten abgetaucht.«
»Du bist auch nicht zur Schule gegangen?«
Ich schüttele den Kopf und erkläre, dass die Schulroutine meine Rettung war. Auch wenn ich die Zeit wie im Koma verbracht habe. Sechs Monate meines Lebens sind nur ein schemenhafter Albtraum. Ich hörte auf, Baseball zu spielen. Ich lief herum wie betäubt. Ich sprach nicht mehr mit meinen Freunden, weil sie mich an Amanda erinnerten. Dann war die Highschool zu Ende und nach der Abschlussfeier verstreuten sich alle. Die paar von meinen Bekannten, die in Phoenix blieben, meldeten sich ab und zu. Aber auch das hörte irgendwann auf.
»Und du hast das Gefühl, dass du wegen deiner Eltern hier bleiben musst?«
Ich nicke.
»Wolltest du eigentlich auf ein College wechseln?«
Ich erzähle ihr von meinem Stipendium in New Mexico. Die Universität hatte mich für die Baseball-Mannschaft angeworben. Aber das war, bevor Amanda starb. Ich habe das Stipendium abgelehnt und bin zu Hause geblieben. Schließlich kann ich nicht einfach meine Sachen packen und meine Eltern alleine hier sitzen lassen.
»Ich wette, deine Schwester würde wollen, dass du zur Uni gehst und Baseball spielst«, sagt Dylan.
Damit hat sie recht. Amanda wäre fuchsteufelswild, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Sie würde mir einen Arschtritt verpassen, der mich direkt nach New Mexico befördert. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie sich im Himmel über mein verpfuschtes Leben aufregt. Bestimmt würde sie mir am liebsten ein paar Engel auf den Hals schicken, die mir ihre Heiligenscheine um die Ohren hauen, bis ich wieder zu Verstand komme.
»Und deine Mutter weiß nicht, wie sie mit allem fertig werden soll?«
Ich schüttele den Kopf. Mom weint noch immer jede Nacht. Ich kann sie hören, wenn ich im Bett liege. Aber sie will nicht darüber reden. In unserer Familie wird nicht einmal Amandas Name erwähnt. Er hängt nur ständig in der Luft wie eine drückende Rauchwolke.
Dylan fragt mich alles Mögliche über meine Schwester. Was sie für ein Mensch war, ob sie Sport mochte, welche Hobbys sie hatte. Es fühlt sich gut an, über Amanda sprechen zu können und wieder Licht auf die Erinnerungen fallen zu lassen, die
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