Dylan & Gray
mir vor, als sei Led Zeppelins Song Fool in the Rain extra für diesen Moment geschrieben worden. Nur kann ich nicht behaupten, dass der Regen mich ruhiger stimmt oder die Erinnerungen fortwäscht. Also laufe ich einfach weiter, angetrieben von meiner Wut und verfolgt von meinen Zweifeln.
E rste Kompromisse
Dezember
Gray
Wir haben zwei Tage vor Weihnachten, ich bin wieder in Phoenix, und draußen sind fast dreißig Grad. Ich habe sämtliche Fenster in meinem Zimmer aufgerissen, denn wenigstens herrscht eine anständige Brise. Ich liege nur mit einer kurzen Sporthose bekleidet auf dem Bett, höre eine CD von Cold War Kids und trommele mit dem Fuß den Rhythmus dazu. Ich mag den rockigen Sound, aber lieber wäre mir, jetzt einfach einschlafen zu können. Das gelingt mir schon seit Wochen nicht mehr ohne Tabletten.
Vielleicht sind die Cold War Kids doch ein bisschen zu hart. Ich suche nach etwas Beruhigendem und entscheide mich für die Eagles. Danach versuche ich es mit den Counting Crows.
Und dann höre ich plötzlich ein Klopfen an meiner Fensterscheibe. Ich richte mich im Bett auf und mein Puls setzt einen Schlag aus, als hätten die klopfenden Finger mein Herz aus dem Rhythmus gebracht. Vielleicht habe ich mir das Geräusch nur eingebildet, weil ich es so gerne hören will, aber ich stehe trotzdem auf, streife ein Paar Sandalen über und gehe nach draußen. Als ich sie sehe, bleibe ich ungläubig stehen.
Dylan befindet sich leibhaftig in meinem Hinterhof. Ich blinzele, falls ich doch träume, allerdings wirkt sie dafür erstaunlich real. Sie hat sich überhaupt nicht verändert, trägt immer noch ihre Schlabberjeans und hat die Haare zu einem zerzausten Pferdeschwanz zurückgebunden. Ihr T-Shirt sieht uralt aus, ein Werbeslogan für eine regionale Softball-Mannschaft ist daraufgedruckt.
»Du hast die Kellertür nicht aufgelassen«, beschwert sie sich, als hätte ich ihre nächtliche Ankunft erwarten sollen.
Ich streiche mir durch die Haare und versuche, einen vernünftigen Satz herauszubringen. »Was machst du hier?«, frage ich schließlich.
»Ich will dir was zu Weihnachten schenken«, sagt sie.
Da erst bemerke ich die große Plastiktüte in ihrer Hand. Ich frage, was darin ist, und sie flüstert mit Verschwörerstimme: »Dinge«. Also frage ich, was für Dinge.
»Ich weiß nicht, ob du die Idee magst. Vielleicht findest du sie blödsinnig.«
Ich stütze die Hände in die Hüften. »Dylan, wir hätten nicht mal den ersten Tag zusammen durchgehalten, wenn ich deine Ideen blödsinnig finden würde.«
»Da hast du recht«, gibt sie zu.
Dann erklärt sie, dass sie die ganze Zeit, in der wir getrennt waren, Erinnerungen an mich gesammelt hat. Eine Sache pro Tag. Die Plastiktüte ist voller Briefe, die sie geschrieben hat, seltsam geformter Steine, Fotos und Postkarten. Außerdem hat sie ein neues Hobby, nämlich Leute nach ihren Lieblingszitaten zu fragen. Ein großer Teil der Sammlung besteht aus hingekritzelten Sprüchen und Lebensmottos, bei denen sie an mich denken musste.
»Am Ende hatte ich fast hundert solcher Dinge. So viele Tage waren es nämlich, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
Ich starre auf die Tüte und sage, wie beeindruckt ich bin, dass sie mit einem einzigen Geschenksack ausgekommen ist.
»Ich habe noch vier weitere im Auto. Fröhliche Weihnachten!«
Eigentlich sollte mich bei Dylan nichts mehr überraschen. Trotzdem schafft sie es immer wieder.
»Vielen Dank«, sage ich, »vielleicht bin ich nächste Weihnachten mit Auspacken fertig.«
Ich frage sie, ob Gürkchen tatsächlich den ganzen Weg hierher geschafft hat, und ihre Mundwinkel sinken nach unten.
»Gürkchen ist vor ein paar Wochen in die ewigen Jagdgründe gegangen«, sagt sie. Ich fühle tatsächlich einen Anflug von Trauer. Schließlich war die alte Klapperkiste der Ort, an dem ich mich verliebt habe. Dylan erzählt, dass sie jetzt einen grünen Mini fährt, den sie Big Blue genannt hat. Ich frage gar nicht erst, wie sie auf diesen Namen gekommen ist. Sie sagt, dass der Mini eigentlich ganz okay ist, aber im früheren Leben wahrscheinlich Eisshowtänzer war, weil er mit Begeisterung an gelben Ampeln und Stoppschildern vorbeischlittert, selbst wenn Dylan lieber anhalten möchte.
»Er ist ein kleiner Angeber«, stellt sie fest und ich grinse. Plötzlich fühlt es sich an, als sei überhaupt keine Zeit vergangen. Höchstens Minuten oder vielleicht Sekunden. Wir schweigen beide einen Moment, dann frage ich, wie
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