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Dystopia

Dystopia

Titel: Dystopia Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Lee
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dem Daumen langsam über seinen Wangenknochen, wie um die Textur seiner Haut zu betasten.
    Aus ihren Augen sprach ebenso sehr Verwirrung wie auch ein Anflug des Begreifens. Travis meinte zu erraten, was gerade in ihr vorging. Paige – die andere Paige – hatte es ihm am Vorabend in Garners Wohnzimmer geschildert. Dass sie in der Lage war, etwas zu begreifen, ohne es tatsächlich begreifen zu können. Eine Fähigkeit, die sie dank der Pforte entwickelt hatte.
    Trotzdem, sie musste doch tausend Fragen an ihn haben. Auch diese Fragen meinte er in ihren Augen sehen zu können, zusammen mit einem Abglanz all der Fragen, die er ihr gern gestellt hätte.
    Wie um alles in der Welt war sie hierhergekommen? Nicht mit einem der Flüge, die von Yuma aus starteten. Nie und nimmer hätte sie sich darauf eingelassen, auch nicht unter Einwirkung der Niederfrequenzwellen. Niemals hätte sie es übers Herz gebracht, sich selbst zu retten und all diese Menschen dem sicheren Tod zu überlassen.
    Wahrscheinlich war sie erst später hergekommen, lange Zeit nach dem
Trüben Dezember
. Wenn irgendjemand auf der Welt Umbra unbeschadet hätte überstehen können, ohne nach Yuma aufzubrechen, dann vermutlich die Tangent-Mitarbeiter in Border Town mit all ihren exotischen Hilfsmitteln. Und Bethany hatte mit ihrer Prophezeiung fraglos recht gehabt: Paige hatte ihn ausfindig gemacht, ehe die Welt unterging. Hatte ihn ausfindig gemacht und dafür gesorgt, dass er am Leben blieb.
    Diese Gedanken gingen ihm vielleicht drei Sekunden lang durch den Kopf, ehe sich eine andere Überlegung in den Vordergrund schob. Die einzige Überlegung, auf die es jetzt ankam.
    Der Zylinder.
    Die Reihe blauer Leuchtpunkte.
    Die Zeit, die ihm noch zur Verfügung stand, verrann unerbittlich.
    Jede Minute, die er noch hierblieb, könnte die eine entscheidende Minute sein, die Paige und Bethany in New York zum Verhängnis wurde.
    Der Daumen fuhr ihm noch einmal über die Wange, leise bebend inzwischen. Travis griff nach oben und umfasste sanft ihre Hand.
    «Ich muss fort», sagte er. «Jetzt gleich. Tut mir leid, dass ich dir das alles nicht erklären kann.»
    Sie tat seine Entschuldigung mit einem Kopfschütteln ab und nahm die Hand von seinem Gesicht. «Dann geh.»
    Er sah sie noch einen Moment lang an, trotz seiner Eile, wandte sich dann um und lief zu Finns Leichnam hinüber. Er hob den Zylinder auf und richtete ihn so aus, dass die Iris sich etwa in Höhe der Patronenhülsen öffnen würde, bei denen er kurz zuvor herübergekommen war. Der Rauch des dort brennenden Flugzeugs würde dafür sorgen, dass er ungesehen in die Gegenwart zurückkehren konnte.
    Er legte den Finger auf den AN -Knopf.
    «Moment noch.»
    Er sah sich um. Paige stand direkt hinter ihm. Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter.
    «Ich muss los», sagte er. «Die Zeit, die mir noch bleibt, ist so schon knapp genug –»
    «Es gibt etwas, das du wissen musst. Es ist wichtiger als alles, was du jetzt so dringend erledigen willst.»
    «Wenn ich auch nur dreißig Sekunden zu spät komme, sterben Menschen. Einer dieser Menschen bist du.»
    Falls diese Mitteilung sie irgendwie berührte, ließ sie sich jedenfalls nichts davon anmerken.
    «Dieses Risiko ist unausweichlich», sagte sie. «Hör mir zu. Es wird länger als dreißig Sekunden dauern, aber ich werde mich beeilen.»
    Selten zuvor hatte er in ihren Augen einen solchen Ernst gesehen. Zugleich hatte ihr Blick etwas Ängstliches.
    Er nahm den Finger wieder von dem Knopf und drehte sich zu ihr um.
    «Ich weiß von der Botschaft, die ich durch die Pforte in die Vergangenheit geschickt habe», sagte Paige. «Und ich weiß auch, dass du das Flüstern erschaffen und ebenfalls in die Vergangenheit geschickt hast.»
    Travis drückte sich den Zylinder an die Seite. Er hatte Angst, ihn gleich unwillkürlich fallen zu lassen.
    «Du hast mir alles erzählt», fuhr Paige fort. «Das
andere
Du, meine ich. Dasjenige, mit dem ich gerade über Funk gesprochen habe. Du hast es mir an dem Tag erklärt, an dem wir die Pforte versiegelt haben.»
    Travis starrte sie an. Ein Szenario, in dem er erfahren könnte, wie Paige auf die Neuigkeit reagieren würde, die er ihr so lange verheimlicht hatte, hatte er niemals auch nur in Betracht gezogen.
    Sie schien ihm die Frage von den Augen abzulesen.
    «Ich habe es besser aufgenommen, als du befürchtet hattest», sagte sie.
    Diese Antwort war beinahe ebenso unwirklich wie der Umstand, Paige überhaupt hier anzutreffen.

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