Dystopia
hindurch, als wäre die Öffnung nicht mehr als ein Loch in der Wand, das in einen dunklen Raum auf der anderen Seite führte. Die gesamte Karte war weiter gut zu erkennen. Sie war hier mit ihnen im Zimmer – obwohl ein Teil von ihr zugleich ganz woanders war, weit, weit weg von ihnen, in der nächtlichen Luft einer ländlichen Gegend auf der anderen Seite der Welt.
Travis zog die Karte aus der Öffnung heraus und warf sie auf einen Sessel ganz in der Nähe.
Er wandte sich wieder Bethany zu. «Mehr Sachen, mit denen wir es probieren könnten, habe ich nicht. Es sei denn, Sie kennen einen Laden hier in Washington, wo man Labormäuse bekommt.»
«Ich denke, uns bleibt wohl nichts übrig, als selbst die Labormäuse zu spielen.»
9
Sie zogen sämtliche Vorhänge im Wohnzimmer der Suite zu und schlossen die Türen, die in die übrigen Räume führten. Ihre Augen hatten sich bald an die nun herrschende, fast vollständige Dunkelheit gewöhnt, die sich jedoch auf die Öffnung in keiner Weise auswirkte: Der Ort auf der anderen Seite sah so pechfinster aus wie zuvor.
Travis trat in den Lichtkegel und stellte sich direkt vor die Öffnung. Von dem blauen Licht, das von hinten auf seinen Rücken fiel, spürte er nichts. Auch die bloßliegende Haut in seinem Nacken und an den Armen fühlte sich normal an.
Travis ließ den kühlen Wind eine Weile über sich hinwegstreichen. Er schloss die Augen. Horchte. Hinter sich, selbst durch die geschlossenen Fenster, konnte er die Geräuschkulisse Washingtons hören. Das Rauschen des Verkehrs. Das Hupen irgendeiner Baumaschine auf einer Baustelle. Das Brummen einer Propellermaschine.
Aus der Öffnung vor ihm aber drangen ebenfalls, wenn auch nur sehr leise, Geräusche. Die nächtlichen Laute von Insekten und möglicherweise Fröschen. Vorher waren sie ihm noch nicht aufgefallen, und er versuchte, sie genauer zu isolieren. Die Geräusche drangen anscheinend nur von einigen vereinzelten Stellen herüber. Was nachvollziehbar war. Hätte drüben auf der anderen Seite noch Sommer geherrscht, wäre das nächtliche Insektenkonzert geradezu überwältigend gewesen. Milliarden winziger Krachmacher, die auch noch von weitem nicht zu überhören gewesen wären. An dem Ort auf der anderen Seite der Öffnung aber – in Kanada oder sonstwo – war der Sommer längst vorbei. Die Nachtluft erinnerte an jene Phase im Spätherbst, wenn alles Lebende sich entweder in schützende Baue zurückgezogen hatte oder schlicht zugrunde gegangen war. Travis hatte den Eindruck, den letzten paar hartnäckigen Überlebenden der Gegend zu lauschen. Nur noch wenige Nächte, dann würden vermutlich auch sie verstummen, und ringsum würde nur noch die tödliche Stille des herannahenden Winters herrschen.
Travis steckte die Hand in die Öffnung.
Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie Bethany bei diesem Anblick leicht zusammenzuckte, obwohl sie damit ja gerechnet haben musste.
Seine Hand fühlte sich prima an.
Er senkte sie zum unteren Rand der Öffnung, berührte ihn jedoch nicht. Überlegte, ob dieser Rand wohl irgendwie gefährlich war. Funktionierte er wie eine Art Rasierklinge zwischen dem Raum auf dieser und dem Raum auf der anderen Seite? Würden seine Finger, wenn er jetzt die Hand darauf niedersenkte, säuberlich abgetrennt und dann ins Dunkel auf der anderen Seite purzeln? Falls diese Gefahr bestand, hätte Paige sie doch sicherlich davor gewarnt. Andererseits aber hatte sie ja nicht die Zeit gehabt, auf irgendwelche Einzelheiten einzugehen.
Ob er noch einmal die Karte holen und den Rand damit prüfen sollte? Travis verwarf den Gedanken. Stattdessen senkte er vorsichtig die Hand, jederzeit bereit, sie wieder zurückzuziehen.
Seine Finger landeten auf einem glatten, abgerundeten Rand, etwa so dick wie das Rohr eines Hula-Hoop-Reifens. Er war so kühl und stabil wie Stahl. Travis übte mit der Hand kurz starken Druck auf den Rand aus, ohne jede Auswirkung. Eigenartig – bei der Bewegung des Zylinders vorhin auf dem Sofa war die Öffnung geschmeidig auf- und abgewippt, durch direkte Kraftanwendung aber konnte sie nicht bewegt werden. Sie war so unverrückbar wie ein Loch, das in eine Stahlwand gefräst war.
Travis duckte sich und steckte den Oberkörper durch das Loch, in die Nacht auf der anderen Seite.
Wo er sofort sah, was von der Suite aus natürlich nicht zu sehen war: einen Nachthimmel voller Sterne, scharf und klar umrissen in der Dunkelheit. Von einem Horizont zum anderen dehnte sich in einem
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