Dystopia
im Nu: Es war nur das Heulen eines Wolfs. Während es langsam erstarb, legte Travis den Kopf schräg und horchte. Direkt unter ihnen hörte er das Trappeln von Pfoten, während das Rudel vorüberjagte. Ihre Krallen scharrten über einen Untergrund, der sich ungewöhnlich hart anhörte. Stein, hätte er getippt – wenn ein Wald auf blankem Stein hätte gedeihen können.
Etwa hundert Meter weiter machten die Wölfe halt, und erneut war Geheul zu vernehmen, erst von einem Wolf, dann noch von einem zweiten. Einige Sekunden verstrichen, und dann drang aus den Bäumen eine halbe Meile weiter weg ein mehrstimmiges Antwortgeheul herüber. Das Wolfsrudel in der Nähe hatte eben angefangen, darauf zu antworten, als im Wald irgendwo zwischen den Rudeln ein neues Geräusch aufkam, das beide Rudel sofort zum Schweigen brachte. Diesmal zuckte Bethany nicht direkt zusammen, aber Travis merkte, wie ein heftiges Zittern sie durchlief. Ihm selbst gefror förmlich das Blut in den Adern, kein Wunder, war er doch, einer langen Reihe von Vorfahren sei Dank, die ihm ihre Gene weitervererbt hatten, sozusagen biologisch darauf geeicht, dieses Geräusch zu fürchten: das gutturale, volltönende Gebrüll eines Löwen.
Ein Löwe. Inmitten von Wölfen. In einem Mischwald so hoch im Norden, dass die Witterung im August bereits etwas Spätherbstliches hatte.
«Okay:
Wo bitte schön sind wir hier?,
ist die falsche Frage», sagte Bethany. «Wo, verdammt noch mal, sind wir hier?»
Zehn Minuten später schimmerte am Horizont die erste Morgenröte. Wiederum fünf Minuten darauf war es hell genug, um alles deutlich erkennen zu können. Jetzt sahen sie, was es mit diesen gerüstartigen Strukturen ringsumher auf sich hatte. Und auch den turmhohen Umriss am Horizont erkannten sie nun. Sie hatten ihn in ihrem Leben schon zigmal gesehen, in Filmen und im Fernsehen.
Jetzt wussten sie genau, wo sie sich befanden.
Und begriffen, dass es vollkommen falsch war, die Frage nach dem Wo zu stellen.
10
Travis ging an den Fenstern auf der Westseite des Zimmers auf und ab. Die Vorhänge waren wieder geöffnet. Es bestand kein Grund mehr, sie noch länger geschlossen zu halten – an dem Ort auf der anderen Seite der Öffnung war es inzwischen ebenfalls hell, wenn auch das Tageslicht dort durch dichte Bewölkung gedämpft wurde, die bei Morgengrauen aufgezogen war.
Er überlegte, wie Paige und die anderen wohl reagiert hatten, als sie den Zylinder das erste Mal erprobten. Sie waren mit Portalstechnologie seit langem vertraut, beschäftigten sich seit Jahren damit. Vielleicht war es ihnen nicht weiter schwergefallen, sich gedanklich auf das einzulassen, was sich jenseits der projizierten Öffnung befand.
Travis tat sich schwer damit.
Bethany schien es ganz ähnlich zu gehen. Sie saß auf dem Sessel, auf den Travis zuvor die Zimmerservice-Karte geworfen hatte, und starrte vor sich hin. Verengte immer wieder die Augen, während sie angestrengt über die Lage nachdachte.
Travis ging zu den Fenstern an der Südwand des Zimmers und starrte hinaus. In etwa anderthalb Meilen Entfernung erhob sich dort das Washington Monument. Mit seiner Höhe von knapp einhundertsiebzig Metern war es das bei weitem höchste Bauwerk der Stadt. Gleißend hell schimmerte der Obelisk aus weißem Marmor im Sonnenschein.
Nach einer Weile wandte Travis sich vom Fenster ab und trat an die in den Raum projizierte Öffnung, die mehr oder weniger nach Süden zeigte. Er steckte den Kopf hindurch und blickte zum Washington Monument hinüber, das dort aus dem dichten Wald aus Kiefern und Laubbäumen aufragte, seltsam stumpf und grau unter dem herbstlich bewölkten Himmel.
Weiter vorn ragten die verrosteten Stahlskelette von Hochhäusern in unterschiedlichen Stadien des Verfalls aus den Bäumen empor. Nur die allerhöchsten waren noch nicht vollständig von Würgefeigen überwuchert. Travis senkte den Blick auf die Überreste des Ritz-Carlton unterhalb von ihm. Bis auf die zu einem großen Teil eingestürzte Südwestecke war das Gebäudeskelett so weit erhalten. Hier und da waren noch Fußböden aus Gussbeton intakt geblieben, meist aber war nur noch das Gerippe aus Bewehrungsstahl übrig, weil der Beton längst zerbröckelt und in die Tiefe gestürzt war.
Durch Lücken zwischen den Bäumen konnte Travis bis zur Erde zehn Stockwerke tiefer hinabsehen, auf die Überreste der Vermont Avenue, aufgesprengt durch jahrelange Wucherung von Pflanzenwurzeln und die Einwirkung von Frost. Er dachte
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